Der König der Republikaner ist nackt

■ In Frankreich ist die Kritik an Staatspräsident Mitterrand kein Tabu mehr / Aus Paris Georg Blume

Unangreifbar errang er im Mai den größten Wahlsieg seines Lebens. Sechs Monate später sind Mitterrands Wähler enttäuscht: Der von ihm ernannte Premierminister Michel Rocard macht weiter mit der neoliberalen Politik des Konservativen Chirac. Und während die Regierung ihre liebe Mühe mit den streikenden Arbeitern hat, wenden sich die Franzosen zum ersten Mal seit de Gaulle wieder einem Volksvergnügen zu, das schon unter Louis XVI. und Louis Philippe populär war: der Majestätskritik.

Der Bestseller macht in Paris Furore. Er stammt schließlich aus geschulter Hand. Von 1981 bis 1984 schrieb Thierry Pfister Reden für den damaligen sozialistischen Premierminister Pierre Mauroy. Heute ist er der beliebteste Thronbeschmutzer der Nation. Sein Buch hat den länglichen Titel „Offener Brief an die Generation Mitterrand, die total daneben ist“ (1). In Frankreich hat es eingeschlagen, wie es sich Voltaire von seinem Werk gewünscht hatte - wie eine „fliegende Rakete, die auf den Köpfen der Narren explodiert“.

Pfister erweckt den Geist Voltaires von neuem. Die Rakete hat das alte Ziel Voltaires: den König, diesen „alternden Monarchen“, den „hinterlistigen Greis“ mit seinen „Versailler Praktiken“, der sich „alle Symbole der antiken Herrlichkeit und Unsterblichkeit aneignet“. Aggressiv und polemisch spitzt Pfister seine Feder. Und er trifft ins Schwarze des Tabus. Mitterrand ein König? Für die in sich selbst verliebte Republik sozialistischer Herrschaftlichkeit ist schon die Frage ein Skandal.

Der Skandal aber bringt auch die Federn der Pariser Presse in Schwung. „Eine allgemeine Tendenz ist festzustellen. Der monarchistische Geist verpestet heute die Atmosphäre und beeinflußt das Verhalten der Bürger.“ Denis Jeambar, Chefredakteur des Wochenmagazins 'Le Point‘, setzt mit seiner gerade erschienenen Streitschrift über das sozialistische Regieren („Lob des Verrats“) (2) den Reigen der literarischen Putschisten fort und setzt hinzu: „Wie selbstverständlich identifiziert sich Mitterrand in seiner zweiten Amtszeit mit der Gründungsfigur einer Dynastie republikanischer Monarchen. Nie hat der Narzißmus solche Ausmaße angenommen.“ Auf der Titelseite präsentierte 'Le Point‘ vergangene Woche Mitterrand im absolutistischen Königslook - eine bisher unvorstellbare Majestätsbeleidigung.

Die Mitterrand ergebene Tageszeitung 'Liberation‘ beleidigt natürlich keinen König, dafür sorgt sie sich um das Wohlverhalten ihres Idols. Für 'Libe'-Herausgeber Serge July ist der Pfister-Coup immerhin Zeichen genug, daß Mitterrand „auch für die Linke nicht mehr unangreifbar ist“. Zumindest vor dem Königsvergleich scheut auch July nicht mehr zurück: „Der republikanische König ist nackt. (...) Die Stunde der Gesetzesübertretungen hat geschlagen.“ Zur Diskussion stehen die Gesetze der fünften Republik.

Die haben Fran?ois Mitterrand schließlich zum König gemacht. Die gaullistische Verfassung legt die Fäden von Exekutive und Judikative fast ganz in die Hand des Staatspräsidenten. „Es läßt sich in Frankreich auf keine demokratische Autorität zurückgreifen, die sich nicht über die Person des Monarchen definiert“, analysiert Thierry Pfister das französische Präsidialsystem, das für ihn keine Demokratie mehr ist. „Die Republik wird ihrer Substanz beraubt, wenn sich die Republikaner selbst den monarchistischen Elementen unserer Verfassungswirklichkeit anpassen. Heute erscheint der Republikanismus ohne Führerfiguren als nicht mehr vorstellbar.“ Französische Alt -Linke werden sich bei diesen Worten die Augen reiben. Denn solche Kritik an den Institutionen, wie sie Kommunisten und Sozialisten über zwei Jahrzehnte lang in der Opposition geübt hatten, war in den achtziger Jahren bisher ausgeblieben. Sie taucht nicht zufällig gerade jetzt wieder auf.

Mitterrands Wähler, die auf eine Reform-Wende gehofft hatten, fühlen sich verraten. Sechs Monate später steht fest: Noch nie haben sich die Vorschußlorbeeren einer Regierung in Frankreich so schnell in Luft aufgelöst wie unter Michel Rocard in diesem Jahr.

Auf Befehl Mitterrands bleibt Premierminister Rocard heute nur die bittere Aufgabe, die von den Sozialisten 1983 eingeführte und von der Chirac-Regierung verschärfte Sparpolitik unter kaum veränderten Vorzeichen fortzusetzen. Die Haushaltsdebatten der letzten Wochen im Parlament dokumentieren die Kontinuität hinreichend. Das Image des Premierministers, der über Jahre Frankreichs beliebtester Politiker war, dem man Scharfsinn, Offenheit und einen pädagogischen Sinn fürs Volk nachsagte, ist binnen kurzem gänzlich verblaßt.

„Gibt es eigentlich ein Regierungsprojekt von Rocard?“ fragt die Wochenzeitung 'Evenement du jeudi‘. Die Frage geht an Fran?ois Mitterrand.

Die seit Monaten andauernden Streiks in Frankreichs Staatsbetrieben geben dem Präsidenten einen unmißverständlichen Beleg für eine allgemeine Unzufriedenheit, die mit den Angestellten des öffentlichen Dienstes die treueste Wählerschaft der Sozialisten erfaßt hat.

Vorbei an einem ebenso unscheinbaren wie sprachlosen Premierminister richten sich die unzufriedenen Blicke der Franzosen wieder auf den Präsidenten. Das ist der Moment, wo das wiederentdeckte Volksvergnügen, die Königskritik, in Schwung gerät.

Mitterrand aber erscheint weiter denn je von den Alltagssorgen seiner Mitbürger entfernt. Bestseller-Autor Pfister: „Mitterrand regiert. Er bestellt seine Architekten zu sich und besichtigt Baustellen, wo man ihm zu Ehren Denkmäler errichtet. Die Gesellschaft muß sich alleine zurechtfinden.“ Gleich zwei Jahrhundertwerke hat sich Mitterrand während seiner siebenjährigen Amtszeit in Paris erbauen lassen: die „Volksoper“ auf dem Platz der Bastille und den neuen Triumphbogen über dem Wolkenkratzerviertel „La Defense“. Beide Monumentalwerke gedenkt er im nächsten Jahr anläßlich des 200jährigen Jubiläums der französischen Revolution in majestätischem Habitus einzuweihen.

In seinem Buch „Wahlkampflandschaft“ (3), das seit Wochen auf Platz eins der französischen Bestsellerliste rangiert, prophezeit der französische Journalist Philippe Alexandre denn auch seinem Staatspräsidenten eine düstere Zukunft: „Fran?ois Mitterrand, der darauf brennt, sich einen Platz in der Geschichte zu machen, läuft Gefahr, sich dort in der Gesellschaft von Ceausescu, Idi Amin und diesen Herrschsüchtigen wiederzufinden, die den Kopf verloren haben.“

(1) Thierry Pfister, „Lettre ouverte a la generation Mitterrand qui marche a cote de ses pompes“, Editions Albin Michel, Paris 1988; (2) Denis Jeambar/Yves Roucaute, „Eloge a la trahison“, Editions Seuil, Paris 1988; (3) Philippe Alexandre, „Paysages de campagne“, Editions Grasset, Paris 1988.