piwik no script img

Prozesse

■ Wir dokumentieren hier einen Artikel aus der 'Literaturnaja Gaseta‘ vom 4.Mai 1988, in dem unter anderem bisher unbekannte Texte von Pasternak zu Meyerhold und neue Informationen aus dem Prozeß gegen Babel zitiert werden.

Arkadi Waxberg

Am 27.Januar brachte die 'Literaturnaja Gaseta‘ den Artikel Zarin der Beweise; es ging darin um die Rolle, die der Generalstaatsanwalt der UdSSR A.Ja.Wyschinski bei der Organisierung und Durchführung der Moskauer Schauprozesse in den dreißiger Jahren spielte, sowie um die Zählebigkeit seines „theoretischen“ Erbes, das sich bis heute auf die Praxis von Staatsanwaltschaft und Gericht auswirkt.

In der Flut von Leserbriefen, die zu diesem Artikel eintrafen, kommt ein äußerst vielfältiges Spektrum an Positionen und Meinungen zur Sprache. Von „Wir unterstützen dies vom ganzen Herzen, danken, warten gespannt auf neue Veröffentlichungen, die die Wahrheit wiederherstellen“ (A.Lepsnonins, Kaunas) bis „Ihre jämmerlichen Anstrengungen, den großen Wyschinski zu verunglimpfen, sind lachhaft... Sein Name wird auf immer in allen Enzyklopädien bleiben, der Ihre aber wird verflucht werden und dem Vergessen anheimfallen“ (A.Popow, Swerdlowsk). Von „Der von Ihnen nicht genannte Veteran hat absolut recht mit seinem Vorschlag, die sterblichen Überreste des Staatsanwalts und Mörders müßten aus der Kremlmauer entfernt werden“ (I.Kostrjukowa, Kaliningrad) bis „Nennen Sie den Namen dieses Veteranen, damit seine widerlichen sterblichen Überreste, wenn es an der Zeit ist, in alle vier Winde verstreut werden können“ (Familie Danilow aus Moskau).

Aber ich habe mich - muß ich gestehen - mehr von Briefen anderer Art angesprochen gefühlt. Zum Beispiel von solchen: „Für die Analyse müssen Fakten her, viele, viele Fakten. Statt dessen trifft man in der Presse nicht selten allgemeine Floskeln... Bringen Sie Fakten, Sie können sicher sein, wir werden daraus Schlüsse ziehen, ohne deshalb gleich zu 'Dissidenten‘ zu werden; unsere Gedanken und Gefühle gehören unserem Land, unserer gerechten Sache, dem Weg, von dem wir nicht abrücken werden“ (die Ingenieure B.Gordejew und B.Moskalenko, Leningrad). Oder folgender Brief: „Sie haben in dem Artikel Meyerholds Verhaftung erwähnt. Nur in einem einzigen Absatz. Aber schon er enthält Fakten, die kaum jemandem bekannt sind. Und wieviele gibt es, die völlig unbekannt sind! Einzelheiten darüber, wie Meyerhold, Babel, Mandelstam, Kolzow und andere Schriftsteller und Künstler umgekommen sind! Wer sonst, wenn nicht die 'Literaturnaja Gaseta‘, soll davon berichten? Fakten, keinen Deut mehr“ (S.Schukowa, Rostow/Don).

Gut, also nur die Fakten...

Worum drehte sich an jenem Tag das Leben in unserem Land? Die Expedition der legendären Mannschaft des „Sedow„ -Schiffes in die Arktis war glücklich zu Ende gegangen: Kapitän Badigin und Politgehilfe Trofimow hatten aus Murmansk ein Telegramm an Stalin und Molotow geschickt mit der Mitteilung, die Besatzung sei in der Heimat an Land gegangen. An der sowjetisch-finnischen Front gab es keine nennenswerten Vorfälle. Schon volle sechs Wochen druckten die Zeitungen Grußbotschaften an den Genossen Stalin zu seinem 60.Geburtstag. Es erschienen ausführliche Auszüge aus Hitlers Rede aus Anlaß des Jahrestages der nationalsozialistischen Machtergreifung, eine Verordnung des Rates der Volkskommissare und des ZK „Über die obligatorische Lieferung von Wolle an den Staat“...

Und in jeder Institution ging die alltägliche, nüchterne Arbeit ihren gewohnten Gang. Natürlich auch bei den Juristen. Das Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR hatte die für jenen Tag, den 1.Februar 1940, angesetzten Fälle anzuhören. Der Zeitplan war rigide; 20 Minuten pro Fall. Jede Verzögerung hätte zu einem Stau geführt, das Fließband darf nicht aus dem Takt kommen. Nirgendwo!

Diesmal aber drohte der Prozeß sich in die Länge zu ziehen; ungewöhnlicherweise (üblich waren „Fälle“ von zehn bis 20 Seiten Umfang im dünnen Hefter) umfaßte einer der Fälle zwei Aktenordner. Der zweite Fall bestand zwar nur aus einem Band, der aber war durchaus gewichtig. Es hing voll und ganz vom Geschick des Vorsitzenden ab, auch unter diesen Umständen den Zeitplan einzuhalten.

Als „Sitzungssaal“ des Militärkollegiums diente Berijas Büro im Lefortowo-Gefängnis. Berija hatte in allen Gefängnissen, wo es „Politische“ gab, ein Privatbüro. Fast jede Nacht nahm er persönlich teil an dem, was man „Verhör“ nannte. Das heißt mit anderen Worten und ohne Anführungszeichen: an Folterungen. Gegen Morgen ging er nach Hause, sein Büro stand nun den Richtern zur Verfügung.

Am Tisch saßen drei Militärs. Den Vorsitz führte der unermüdliche Wassili Ulrich, gebürtiger Rigaer, aus einer gebildeten Familie stammend (seine Mutter war schöngeistiger Literatur nicht abgeneigt, ja hatte sogar Erzählungen und Märchen verfaßt), „ein kleiner glatzköpfiger Mann mit einem rosigen Gesicht und gestutztem Schnurrbart“ - so zeichnet ein Augenzeuge sein Porträt. Ulrich war seit fast 14 Jahren Vorsitzender des Militärkollegiums. Wieviele Todesurteile er wohl bei einem so geballten und rigiden Zeitplan unterschrieben hat? Ich fürchte, das wird inzwischen niemand mehr ausrechnen können.

Neben ihm saßen an jenem Tag zwei andere, völlig unbekannte Richter: Kandybin und Bukanow. Ihre Namen finden sich unter Hunderten von anderen Urteilen mit demselben Finale; das Vertrauen, das man in sie gesetzt hatte, wußten sie offenbar zu würdigen. Sie hörten den Vorgängen schweigend zu und unterschrieben ergeben die vorfabrizierten Papiere.

Der Mann, der als erster in den „Sitzungssaal“ geführt wurde, war den Richtern nur allzu bekannt. Total Unbekannte wurden übrigens dort nicht vorgeführt: Ulrich saß über Prominente zu Gericht. Aber diesen Angeklagten kannten nicht nur die Richter, ihn kannte das ganze Land. Dem Namen nach wie auch vom Aussehen. Etliche Male war sein Foto auf den Zeitungsseiten abgebildet, eine Ausgabe nach der anderen zeigte ihn das Fensehen von damals, die Kino-Wochenschau: an Bord von gigantischen Flugzeugen, auf spanischem Boden unter den faschistischen Bomben, auf Feldern und unter Tage, bei Militärmanövern und bei Theaterpremieren.

Es war Michail Kolzow, ein berühmter Journalist, Mitglied des Redaktionskollegiums der 'Prawda‘, Abgeordneter des Obersten Sowjet der RSFSR, korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR... Ehemals, ehemals... Denn jetzt war er ein ganz gewöhnlicher Spion. Agent dreier Geheimdienste: des deutschen, französischen, amerikanischen. Mitglied des antisowjetischen Untergrunds seit 1923, als welches er „trotzkistische Ideen propagiert und für die Führer des Trotzkismus geworben hatte“, Terrorist seit 1932, der beabsichtigt hatte, jemanden umzubringen, wobei unbekannt war, wen, wie, wann und warum. Er hatte absolut alles gestanden. So hieß es in der endgültigen Anklageschrift, deren Text auf zweieinhalb Seiten Platz hatte.

„Möchten Sie etwas hinzufügen?“ fragte Ulrich den Angeklagten. „Nicht hinzufügen, sondern dementieren“, sagte Kolzow. „Alles, was hier geschrieben ist, ist gelogen. Von vorn bis hinten.“ - „Wieso gelogen? Ist das Ihre Unterschrift?“ - „Ich habe unterschrieben... Nachdem man mich gefoltert hat... Nach entsetzlichen Folterungen...“

„Wollen Sie jetzt etwa auch noch die Organe anschwärzen... Warum wollen Sie noch mehr Schuld auf sich laden? Sie geht ohnehin ins Unermeßliche...“ - „Ich bestreite das entschieden...“, setzte Kolzow an, aber Ulrich unterbrach ihn. „Sonst haben Sie nichts hinzuzufügen?“

Er schaffte es in 20 Minuten. Sparte sogar ein bißchen ein.

Als der Oberstleutnant der Justiz Araktschejew 14 Jahre später diesen Fall überprüfte, war er nicht nur äußerst erstaunt, daß die Anklage schlicht jeder Grundlage entbehrte, sondern auch darüber, daß nicht der geringste Versuch unternommen worden war, dem Fall wenigstens den Anstrich von Beweiskraft zu geben. Wenigstens irgendeine Logik zu konstruieren. Irgendwelche Anzeichen von Ermittlungen in der Akte zu hinterlassen.

Im Haftbefehl, der 24 Stunden, nachdem sich Kolzow bereits im Gefängnis befand, ausgestellt wurde, ist folgender Grund für die Verhaftung angegeben: „Sein Bruder, der Historiker Fridljander, wurde als aktiver Volksfeind erschossen...“ Obwohl Verwandtschaft, egal mit wem, ohnehin kein Verbrechen ist, liegt die bittere Ironie darin, daß der bekannte Historiker, Dekan der historischen Fakultät der Moskauer Universität, überhaupt nicht mit M. Kolzow, eigentlich Fridljand, verwandt war. Der Name des Professors, dessen „Verwandtschafts„-Grad als Verhaftungsgrund diente, wird mit keinem einzigen Wort mehr auch nur ein einziges Mal irgendwo in den beiden Aktenordnern erwähnt. Man hatte ihn vergessen.

Alle Anklagepunkte fielen ohne jegliche Anstrengung in sich zusammen, wenn man sich nur ein wenig in sie einlas. Aber damals wollte sich keiner einlesen. Keiner! Die klägliche Phantasie der Ermittlungsführung war uninteressant (denn die Richter wußten ja, daß das eine Phantasie war), und eine Überprüfung hatte nicht den geringsten Sinn (denn das Schicksal des Opfers war im vorhinein entschieden).

Wenigstens jetzt wollen wir uns denn doch einlesen.

Kolzow war als Terrorist - so heißt es im Urteil - von Karl Radek angeworben worden; im Prozeß von Radek aber war dieser Anklagepunkt aus irgendeinem Grund nicht aufgetaucht.

Zusammen mit Kolzow, so heißt es ebenda, wurde der Regierungsbevollmächtigte in Rom, Boris Stein, angeworben. Aber es ist zu keinem Prozeß gegen Stein gekommen, er war keinerlei Repressionen ausgesetzt.

Eine Mitarbeiterin der 'Prawda‘, die Schriftstellerin Tamara Leontjewa, die ein paar Monate zuvor verhaftet worden war, hatte dem Ermittlungsbeamten Makarow nach Folterungen „gestanden“, sie sei zusammen mit Kolzow Mitglied irgendeiner trotzkistischen Gruppe gewesen. Aber das Sonderkollegium der NKWD (ausgerechnet das!) stellte das Verfahren gegen Leontjewa ein: Sie hatte Glück.

Kolzow hatte keins. „Erschießen!“ - befand Ulrich wie gewöhnlich. Der Angeklagte durfte kein Wort sagen: Vor der Tür wartete bereits ein neues Opfer auf seine Vorladung.

Das war ein Mann, dessen Namen die gesamte zivilisierte Welt kannte. Ein großer Theaterreformer, der Kennern schon zu Lebzeiten als ein Genie galt, von den Ignoranten aber als Trickser, Formalist, Verschandler der Klassiker bezeichnet wurde. Wsewolod Meyerhold war am 20.Juni 1939 verhaftet worden. Unmittelbar nach der Rede, die er im Beisein von Wyschinski gehalten hatte (siehe den Artikel Zarin der Beweise in der 'Literaturnaja Gaseta‘ vom 27.Januar d.J.), fuhr er nach Leningrad, um dem Lesgaft-Institut bei der Inszenierung der theaterähnlichen Schau auf der bevorstehenden Sportparade behilflich zu sein. Und da griffen sie zu.

Die Untersuchung dauerte sieben Monate. Anfangs gestand Meyerhold, er sei ein englischer und japanischer Spion, Trotzkist seit 1923; 1930 habe er „die antisowjetische Gruppe 'Linke Front‘ geleitet, in der sich alle antisowjetischen Elemente aus dem Kunstbereich zusammengeschlossen hatten“ (nebenbei bemerkt, der LEF existierte nur bis 1929, d.Verf.); 1933 sei er „organisationsmäßig mit ... Rykow, Bucharin und Radek in Verbindung getreten, in deren Auftrag er seine subversive Tätigkeit im Bereich der Theaterkunst durchgeführt habe„; drei Jahre später habe ihn Ilja Ehrenburg für eine trotzkistische Organisation (noch eine!) angeworben, und von dem bekannten Dichter Jurgis Baltrusaitis, bis vor kurzem litauischer Regierungsbevollmächtigter in der Sowjetunion, sei er als englischer Spion angeworben worden...

Meyerhold fand die Kraft und den Mut, sich von diesem Unsinn noch im Stadium der Ermittlungen zu distanzieren. Drei Wochen vor dem Prozeß, am 13.Januar 1940, wandte er sich in einem Brief an Wyschinski, überzeugt, dieser sei nach wie vor Generalstaatsanwalt der UdSSR, obwohl er bereits vor Meyerholds Verhaftung eine andere Aufgabe übernommen hatte. Aber Wyschinskis wahre Bedeutung, seine wirkliche Rolle war Meyerhold bekannt...

In dem Brief des Regisseurs an das Akademie-Mitglied hieß es: „Man legte mich mit dem Gesicht nach unten auf den Fußboden, schlug mir mit einem Riemen auf die Fersen, den Rücken; als ich auf dem Stuhl saß, schlugen sie mir mit demselben Gummi auf die Beine. An den folgenden Tagen, als diese Stellen an den Beinen von einem riesigen inneren Bluterguß angeschwollen waren, schlugen sie mir erneut gezielt mit dem Riemen auf diese blutunterlaufenen rot-blau -gelben Stellen, und das tat so weh, daß ich das Gefühl hatte, als ob sie auf die kranken, hochempfindlichen Stellen sprudelnd kochendes Wasser gießen würden (ich schrie und weinte vor Schmerzen). Sie schlugen mir mit den Händen ins Gesicht... Der Untersuchungsrichter drohte in einem fort: 'Wenn du nicht unterschreibst, schlagen wir dich weiter, alles andere machen wir zu einem unförmigen, blutigen Klumpen.‘ Und vor dem 16.November 1939 setzte ich unter alles meine Unterschrift.“

Eine Erklärung desselben Inhalts schickte Meyerhold an den Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare der UdSSR W.M. Molotow, Ehrenmitglied der Akademie.

Von den Akademiemitgliedern kam keine Antwort. Beziehungsweise das „Gerichtsverfahren“ war eben die Antwort.

Ilja Ehrenburg lebte damals als eigener Korrespondent der 'Istwestija‘ in Paris und konnte es nicht erwarten, nach Moskau zurückzukehren, ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben, daß er irgendwen für irgendetwas angeworben hatte. Auch andere Mitglieder hatten keine Ahnung, daß sie gleichfalls von Ehrenburg für eben diese Organisation angeworben worden waren: Juri Olescha und Boris Pasternak. Als der Oberstleutnant der Justiz Militärstaatsanwalt Rjaschski 1955 an die Überprüfung des Falles „Meyerhold Raich, W.E.“ ging, suchte er ohne Erfolg im Archiv nach den Akten der Verschwörer Ehrenburg, Olescha und Pasternak. Alle drei erschienen leibhaftig und unversehrt auf die Vorladung des Oberleutnants, wurden aber zum Glück auch von ihm im unklaren gelassen, was sich über ihnen zusammengebraut hatte.

Man schrieb, möchte ich erinnern, erst das Jahr 1955, bis zum XX. Parteitag gingen noch ein paar Monate ins Land, Stalins Porträts zierten noch Straßen und Büros, wenn man seinen Namen nannte, fügte man nach wie vor „Führer und Lehrer“ hinzu. Die Rehabilitierung der stalinistischen Opfer wurde eben erst zaghaft in Angriff genommen. Deshalb war der Staatsanwalt in seiner Begründung auf äußerste Gründlichkeit bedacht. So finden sich im Dossier des Staatsanwalts über 50 Gutachten zu Meyerhold, die von den größten Persönlichkeiten der Kultur stammen.

Das ist, denke ich, ein Fall ohnegleichen: Die vollständigste Sammlung von Gutachten über die Bedeutung des Regisseurs für die Kunst der Welt befindet sich nicht im Zentralen Archiv für Literatur und Kunst (ZGALI), sondern bei der Staatsanwaltschaft. Und was für Namen!... Schostakowitsch, Pasternak, Ehrenburg, Ws.Iwanow, Romm, Nasym Chikmet, Ochlopkow, Iljinski, Zarev, Pyrjew, Scharow, Garin, Swerlin, Strauch, Oborin, Sofronizki, Obraszow, Wiwjen, die Kukrynixe, Sawadski, German, Olescha, Jutkewitsh, G.Alexandrow, Ekk, Giazintowa, Merkurjew, Dm. Orlow...

Ehrenburgs Gutachten ist erst unlängst veröffentlicht worden (in der 'Woprosy literatury‘ 1987, Nr. 12). Hier sind andere, die bisher nicht bekannt waren.

„An den Staatsanwalt B.W. Rjaschski

Sehr geehrter Boris Wsewolodowitsch!

Ich habe immer noch nicht mein Versprechen wahrgemacht, Ihnen unser Gespräch über Meyerhold schriftlich zu fixieren, denn ich war in letzter Zeit sehr beschäftigt. Sie erinnern sich an unser Gespräch. Es drehte sich im wesentlichen um folgendes. Wie Majakowski stand ich mit Meyerhold in Verbindung aus Hochachtung vor seinem Talent, wegen des Vergnügens und der Ehre, die mir der Besuch seines Hauses beziehungsweise seiner Aufführungen bereitete; aber uns verband keine gemeinsame Arbeit, so etwas ist zwischen uns nicht vorgekommen; er und Majakowski waren mir zu links und revolutionär, und ich war ihnen nicht radikal genug.

Besonders mochte ich Meyerholds letzte Inszenierungen: den Revisor, Verstand schafft Leiden, die Kameliendame. Wsewolod Emiljewitschs Haus war ein Treffpunkt für alle in künstlerischer Hinsicht progressivsten und besten Schriftsteller, Musiker, Schauspieler und Künstler, die sich bei ihm einfanden. Meiner Ansicht nach war Majakowski derjenige, der ihm am nächsten in seinem inneren Feuer und seinen Überzeugungen kam, der sein engster Bruder war. Ich weiß nicht, wie kompetent meine Meinung in diesem Punkt ist. Das ist in Kürze das Lebendigste, was ich dazu sagen und mir in Erinnerung rufen kann. Leben Sie woh

Ihr B. Pasterna

24.August 1955

„Der Name des genialen Wsewolod Meyerhold“, das schrieb Schostakowitsch an den Staatsanwalt, „sein herausragendes künstlerisches Erbe muß dem sowjetischen Volk zurückgegeben werden.“ „Das Werk von W.E. Meyerhold, ein Künstler von gewaltigem Talent, von Kultur und Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Kunst, ist aus der Geschichte des Theaters der Sowjetunion und der Welt nicht wegzudenken“, appellierte Jutkewitsch an die Gerichtsbarkeit. „Die Beschuldigung, Meyerhold habe im Bereich der Theaterkunst politisch schädliche Arbeit geleistet, ist in den Augen von uns sowjetischen Künstlern eine unerhörte und völlig aus der Luft gegriffene Verleumdung“, so begann Sawadski sein Schreiben an die Staatsanwaltschaft.

Ulrich und seine Helfershelfer schafften es in in 20 Minuten, Meyerhold in den Tod zu schicken. Ihre Kollegen (das ist rein formal gemeint!) - die Justizobersten Senik und Jutkin und der Oberstleutnant der Justiz Schalaginow brauchten weit mehr Zeit, um das, was für alle offensichtlich war, anzuerkennen: Das Urteil war absolut unrechtmäßig! Das liegt doch ab der ersten Zeile auf der Hand: Man kann sich vorstellen, was die Ermittlungsbeamten über den Untersuchungsgefangenen, die Richter über den Angeklagten wußten, wenn Meyerhold in der endgültigen Anklageschrift und im Urteil als Chefregisseur des Stanislawski-Theaters und als „Volkskünstler der UdSSR“ bezeichnet wird. Dabei hat K.S.Stanislawski nach der Auflösung des Meyerhold-Staatstheaters (GOSTIM) dem in Ungnade gefallenen Genie bekanntlich zu einem ganz gewöhnlichen Posten in seinem Opernstudio verholfen, und mit dem Titel „Volkskünstler der UdSSR“ ist Meyerhold eben gerade nie ausgezeichnet worden.

Wie aber wurde er zum Spion? Warum für England und Japan und nicht, sagen wir, für Ceylon und Honduras? Eine Zufallsfügung, Schicksalslaune... Zusammen mit seiner Frau, einer Schauspielerin, reiste der junge japanische Regisseur Ioshido-Ioshima zu Meyerhold, um dessen Theaterarbeit kennenzulernen: Was braucht die Entlarvungspsychose noch mehr, um flugs die Fäden zum japanischen Geheimdienst zu spinnen? (Ioshido-Ioshima und seine Frau, die in Jeschows Kellern umkamen, sind natürlich längst rehabilitiert.) Unter Meyerholds Bekannten gab es einen Mann mit dem englischen Nachnamen Grey: Und schon ist der ersehnte Vorwand da, um den Regisseur dem Intelligence Service zuzuschustern. Baltrusaitis? Er ist ebenfalls „Agent ausländischer Geheimdienste“. Welcher? Der Staatsanwalt Rjaschski hatte es sich in den Kopf gesetzt, auch auf diese Frage eine Antwort zu finden. Und er fand sie auch: Die französischen Geheimdienste beispielsweise waren der Meinung, der „prosowjetisch eingestellte“ Baltrusaitis sei „zweifellos ein Anhänger des Bündnisses mit den Bolschewiken“ und er sei „aller Wahrscheinlichkeit nach ein russischer Agent...“

Höchste Zeit zu lachen; doch zuviel Bitterkeit schwingt in diesem Lachen von heute. Am 2.Februar 1940 wurden Meyerhold und Kolzow erschossen.

Sechs Tage vorher war ebenfalls ein weltbekannter Mann umgekommen; wie im Urteilsspruch so hatte er auch zu Lebzeiten in enger Verbindung mit den Opfern jenes 2.Februar gestanden: Am 27.Januar wurde Isaak Babel erschossen, tags zuvor von eben jenem Ulrich verurteilt (diesmal assistierten ihm Kandybin und Dmitrijew). 14 Jahre später wird es im Abschlußbericht des Oberstleutnants der Justiz Militärstaatsanwalt Dolschenko zur Rehabilitierung von Babel heißen: „Der Grund für seine Verhaftung geht aus dem Aktenmaterial nicht hervor, weil der Hatbefehl vom 23.Juni 1939 stammt, ein Zeitpunkt, da sich Babel bereits seit 35 Tagen in Haft befand.“ (Babel wurde am 16.Mai 1939 auf seiner Datscha in Peredelkino verhaftet - d.Verf.)

Der Welt galt er als großer Schriftsteller, den Richtern als Mitglied einer antisowjetischen trotzkistischen Organisation seit 1927, als Agent des französischen und österreichischen Geheimdienstes seit 1934. Nicht der Grund, wohl aber der Anlaß zu seiner Verhaftung ist leicht zu erraten. Gerade war der entsetzliche Jeschow, der Angst und Schrecken im Land verbreitet hatte, denselben Weg wie seine Opfer gegangen - Babel kannte Jeschows Frau (das steht auch in Ehrenburgs Memoiren) und, obwohl er sich im klaren darüber war, in welche Gefahr er sich begab, traf er sich mit ihr. Das fand seinen Niederschlag im Urteilsspruch: „In seiner antisowjetischen Tätigkeit organisationsmäßig verbunden mit Gladun-Chajutina, der Frau des Volksfeindes Jeschow, wurde Babel von letzterer zu umstürzlerischen antisowjetischen Terroraktionen herangezogen, stimmte mit den Zielen und Aufgaben dieser antisowjetischen Organisation überein, so unter anderem auch mit den Terrorakten gegen Führer der KP und Mitglieder der sowjetischen Regierung.“

Babel wies beim Verhör, das sich drei Tage und Nächte, vom 29. bis 31.Mai, rund um die Uhr hinzog, zunächst alle Beschuldigungen von sich, änderte dann aber - aus Gründen, die aus dem Protokoll nicht ersichtlich sind - plötzlich radikal seine „Verhaltensweise“ und gab an, daß er Mitglied einer trotzkistischen Spionagegruppe sei; angeworben hat auch ihn wieder Ehrenburg, Verbindungsmann war Andre Malraux, der bekannte französische Schriftsteller und spätere Minister der Regierung de Gaulle. Was war es, das Babel ihm verkaufte? Kalauer und Witze? Trinksprüche? Nein, Geheimnisse der Luftwaffe. Nicht mehr und nicht weniger...

Nicht uninteressant ist wohl auch, wer noch zu der Gruppe gehörte, in der Babel Mitglied war: Außer Ehrenburg finden wir hier die Schriftsteller Leonid Leonow, Walentin Katajew, Wsewolod Iwanow, Juri Olescha, Lidija Sejfullina, Wladimir Lidin, die Kinoregisseure S.Eisenstein und G.Alexandrow, die Schauspielerin S.Michoels und L.Utjossow, das Akademiemitglied O.Ju.Schmidt und viele andere.

Egal woraus die Wahnsinnigen in Jagodas, Jeschows und Berijas Teufelsküche ihre Anklagen zusammenbrauten, heute, so scheint es, kann uns absolut kein noch so ausgeklüngeltes Hirngespinst mehr aus der Fassung bringen. Und trotzdem: Wenn man die Liste der „Untergrundkämpfer“ liest, zweifelt man, ob man noch bei Verstand ist. Leonow: ein Terrorist? Katajew: ein Saboteur?! Olescha: ein Verschwörer? Aufhören, das kann nicht wahr sein...

Aber nein, so völlig aus der Luft gegriffen ist die Liste gar nicht. Es sind alles nicht nur außergewöhnlich begabte Menschen, was schon an sich unverzeihlich ist, nicht nur Menschen mit einer eigenen Meinung und kritischem Blick, was ihnen ganz und gar nicht zur Ehre gereicht -, sondern fast alle hatten sie irgendwie die Unvorsichtigkeit besessen, sich den Zorn des Führers zuzuziehen. Gerade in jener Zeit waren Leonows Schneesturm, Katajews Häuschen, die Belschinwiese, ein Gemeinschaftsprojekt von Eisenstein und Babel, der vernichtenden Kritik höchster Stellen ausgesetzt. Sejfullina und Ws.Iwanow hatten bereits früher im Kreuzfeuer der Kritik gestanden. Es sind Kandidaten, die durchaus für eine trotzkistische Gruppe qualifiziert sind!...

Der einzige, der sich in dieser Gesellschaft ein wenig seltsam ausnimmt, ist wohl Schmidt. Und doch... Kaum war er gefeiert, gehätschelt, belohnt worden - und zwar nicht von irgendwem, sondern von Ihm persönlich -, da hatte der „Tscheljuskin„-Held in seiner Rede auf dem I. Schriftstellerkongreß gesagt: „Wir brauchen bei unserer Arbeit keinen Ansporn, keinen Druck, kein Anfeuern, wir brauchen die Gegenüberstellung von Führer contra allgemeine Masse nicht. Das sind Methoden, die uns völlig fremd sind. Ich will nicht viele Worte machen, aber das sind die Methoden, die einer unserer Nachbarstaaten im Ausland anwendet.“ Deutlicher kann man es nicht sagen! Die Zuhörer hatten den Redner sehr wohl verstanden - nicht umsonst bemerkt das Protokoll „Beifall“ an dieser Stelle!

Babels Äußerungen auf dem I. Kongreß gingen in dieselbe Richtung: “...Geheuchelte, seichte, bürokratische Worte ... sind Wasser auf die Mühle unserer Feinde... Man tönt bei uns unerträglich laut von der Liebe... Wenn das so weitergeht, werden bei uns demnächst Liebeserklärungen wie Schiedsrichterurteile auf dem Fußballplatz aus den Lautsprechern dröhnen.“ Es gab kaum jemanden, der so schwer von Begriff war, daß er nicht verstanden hätte, an wen die Liebeserklärungen über den Lautsprecher damals adressiert waren. Und es war abzusehen, daß des Redners Dreistigkeit kaum ohne Nachspiel bleiben dürfte.

Man kreidete ihm die Reiterarmee an, wo er - so heißt es in der Anklageschrift - „die ganze Brutalität und die Ungereimtheiten des Bürgerkriegs beschrieben und den Akzent ausschließlich auf Sensationen und reißerische Episoden gelegt habe...“ Das Gericht ordnete diesen inzwischen zum Klassiker gewordenen Erzählzyklus unter Sabotage und Landesverrat ein.

Schon am 10.Oktober 1939 widerrief Babel sein Geständnis. In seiner Erklärung heißt es: „Ich bitte das Gericht zu beachten, daß ich, bereits inhaftiert, mit meinen früheren Angaben ein Verbrechen begangen habe, ich habe mehrere Menschen verleumdet.“ Drei Mal schickte er an Ulrich ein Schreiben dieses Inhalts: am 5. und 21.November 1939 und am 2.Januar 1940. Er bat um ein Gespräch mit dem Staatsanwalt, bat, Zeugen vorzuladen, ihm Einsicht in die Akte zu geben, einen Verteidiger zuzulassen. Umsonst...

In einer weisen Entscheidung schaffte Ulrich das Problem am 26.Januar binnen weniger Minuten aus der Welt. Am nächsten Morgen lebte Babel nicht mehr.

Das Material, das andere Personen als trotzkistische Terroristen und Agenten sämtlicher ausländischer Geheimdienste inkriminierte, lag im sicheren Safe und harrte, bis seine Stunde kommen würde. Offenbar war ein aufsehenerregender Prominentenprozeß mit Schriftstellern und Schauspielern geplant, aber Meyerholds, Kolzows und Babels Weigerung, trotz Drohungen und Folterungen ein Geständnis über ihre „Untaten“ abzulegen, schob dieser lockenden Aussicht zumindest für eine gewisse Zeit einen Riegel vor. Natürlich konnte das „gesammelte“ Material jeden Augenblick wie eine Zeitbombe losgehen, ein Knopfdruck genügte.

Übersetzt von Birgit Veit

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen