: Ein Beinahe-Unfall und kein normaler Störfall
Michael Sailer, Diplom-Physiker und Reaktorexperte beim Öko-Institut Darmstadt, zum Zwischenfall in Biblis ■ I N T E R V I E W
taz: Glaubt man den Umweltministern in Bonn und Wiesbaden, dann handelt es sich bei der Diskussion um Biblis um einen „Sturm im Wasserglas“.
Michael Sailer:Der Störfall war deshalb außergewöhnlich und extrem gefährlich, weil auf diese Weise ein Unfall mit Kühlwasserverlust außerhalb des Sicherheitsbehälters, des „Containements“, eingeleitet werden kann. Uns alarmiert weniger die Radioaktivität, die damals ausgetreten ist. Vielmehr hätte es nur noch weniger Bedienungsfehler bedurft, um einen Kernschmelz-Unfall auszulösen.
Kraftwerksleitung und Ministerien machen vor allem menschliches Fehlverhalten für den Störfall-Ablauf verantwortlich.
Das ist sehr interessant. Angeblich brauchen ja deutsche Reaktoren überhaupt keine Menschen, sondern alles läuft automatisch ab. Das ist also ein Eingeständnis der Verantwortlichen, daß es so offenbar doch nicht ist. Tatsächlich standen zwar menschliche Fehler am Anfang, über drei Schichten hinweg wurde überhaupt nicht daran gedacht, das offenstehende Ventil zu schließen. Aber die Automatik konnte so einen Fall überhaupt nicht erkennen. Hätte das Personal die Anlage weiter hochgefahren, wäre die Katastrophe dagewesen. Die Schicht, die den Reaktor letztendlich abgeschaltet hat, hat also durch positives menschliches Verhalten die Situation gerettet.
Als Konsequenz aus dem Unfall wurden in anderen Reaktoren technische Veränderungen vorgenommen und die Betriebshandbücher umgeschrieben. Ist das üblich?
Nein. Das ist kein übliches Verfahren. So verhält man sich nur, wenn bedeutende Gefahren aufgetreten sind. Das sagt etwas über die Wichtigkeit dieses Beinahe-Unfalls.
Trotzdem hat es ein Dreivierteljahr gedauert, bis dieser Störfall international mitgeteilt wurde. Ist das mit den Verträgen vereinbar, die nach Tschernobyl unterzeichnet wurden?
Formal vielleicht. Dem Geist der Verträge nach sicher nicht. Vor allem deshalb nicht, weil sich die Bundesrepublik immer als das Land mit den bestkontrollierten und am besten ausgerüsteten Reaktoren darstellt. Da kann man sich nicht gleichzeitig im internationalen Maßstab so unverantwortlich verhalten.
Hätte die Öffentlichkeit hier unterrichtet werden müssen?
Formal hätte sie nicht unterrichtet werden müssen, weil in der Bundesrepublik normalerweise alle Störfälle geheimgehalten werden können. Das ist auch bei anderen Beinahe-Unfällen so.
Nach Tschernobyl wurde für alle Zukunft rückhaltlose Offenheit versprochen. Wie kann eine solche Zusage eingelöst werden?
Ich glaube, das geht nur, wenn in Zukunft die Störfälle gegenüber allen Parteien in den Parlamenten kontinuierlich und schnell zu melden sind. Das darf nicht auf die paar Leute in den Verwaltungen beschränkt bleiben, die in die Geheimhaltungspflicht der Atomindustrie eingebunden sind.
Interview: Gerd Rosenkranz
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