Ekkehart Krippendorff: "Deserteure"

■ Über eine schon abgeräumte aber hoffentlich bald auf Wanderschaft gehende Ausstellung in Gelsenkirchen

Ekkehart Krippendorff

Man hatte mich eingeladen, über mein Buch „Staat und Krieg“ zu diskutieren - nach Gelsenkirchen. Wem bedeutet schon Gelsenkirchen etwas? Eine der klassischen Ruhrpott-Städte, das weiß man, auch die Assoziation „Gelsenkirchener Barock“ drängt sich auf: jene verschnörkelte Möbelarchitektur der Jahrhundertwende, die den Bergarbeitern als erstrebenswerter Geschmack vom Bürgertum vermacht worden war, und daß es dort ein Musiktheater gab, das wußte ich. Die Gruppe, die mich einlud, nannte sich „Aktion gegen den Krieg“ - wie kann man da nein sagen. Vom Kontext wußte ich nichts. Ich wurde beeindruckt und muß kurz davon berichten.

Eine kleine Gruppe von Leuten, Lehrer zumeist, aber nicht nur, hervorgegangen und dann übriggeblieben aus verschiedenen Zusammenhängen politischer Arbeit der 70er Jahre und später den Massen-Zeiten der Friedensbewegung, die nicht aufgegeben und resigniert hatte, wartend auf bessere Zeiten. Und die Leute hatten Gedanken, hatten politische Phantasie. Was auch andernorts inzwischen erkannt, und zwar als wichtiges historisches Erinnern erkannt wurde, daß nämlich Kriege von den Großen gemacht und von den Kleinen durchs Mitmachen ermöglicht werden und daß zu allen Zeiten Vernunft und Menschlichkeit bei denen wachgehalten wird, die sich diesem großen Politikspiel der Gewalt entziehen, daß also der Figur des Deserteurs ein Denk-Mal gebühre, davon gingen sie aus. In Bonn gibt es seit einiger Zeit eine Initiative, die dem „unbekannten Deserteur“ ein echtes Denkmal errichten will - ihm, der den Mut hatte, und sei es auch nur als alles schon offensichtlich verloren war, auszusteigen. In Dortmund wurde soeben, mit den Stimmen von Grünen und SPD, eine „Reichswehrstraße“ nach einem solchen „Vaterlandsverräter“ von 1944 umbenannt. (TAZ v. 21.12. 87)

Die Gelsenkirchener hatten eine andere Idee: sie schrieben an Künstler/Innen aus dem engeren und weiteren Umkreis ihrer Stadt, deren Namen sie aus einschlägigen Museums- und Gallerie-Listen in Erfahrung brachten, im April 1988 einen Brief: Wir bitten Sie oder bieten Ihnen an, sich künstlerisch - auf der Ebene, auf der sie jeweils arbeiten mit dem Thema „Desertion“ auseinanderzusetzen und uns ein Produkt dieser Auseinandersetzung für eine Veranstaltung zum Volkstrauertag (13. November 1988) zur Verfügung zu stellen.“ Mit einem Dutzend positiver Antworten hatte man wohl gerechnet, und dafür standen Räume in einem kleinen, gemeinsam mit den Grünen betriebenen Zentrum zur Verfügung. Statt dessen war die Reaktion in einem wörtlichen Sinne überwältigend, nicht zuletzt angesichts der Kürze der vorgegebenen Zeit: gut 40 Exponate gingen ein und am 30. Oktober konnte eine Ausstellung eröffnet werden, für die die Räume, die der sympathisierende Leiter des Museums von Gelsenkirchen-Buer zur Verfügung stellte, gerade ausreichten. Offensichtlich hatte sich das Projekt herumgesprochen auch über den Kreis der Angeschriebenen selbst: vom 18jährigen, dessen Vater als Arzt verletzte Kinder aus Vietnam betreut und dadurch die eigene Familie in das Nachdenken über den Krieg hineingezogen hatte, reichte die Biographie der Einsender bis zur 70jährigen, die zum ersten Mal in ihrem Leben sich bildnerisch auszudrücken versuchte und dazu schrieb: „Hätten wir damals eine ganz große Zahl an Desertionen gehabt, wer weiß, vielleicht wäre der Krieg eher zu Ende gewesen (oder sogar ganz ausgeblieben?). Mit meinem Bild möchte ich dazu beitragen, daß für alle Besucher diese Ausstellung lehrreich und interessant wird und daß alle Deserteure ein neues Ansehen bekommen.“ Nicht alles ist da „große Kunst“, will es auch gar nicht sein - und die wenigen Arbeiten, die das sein wollen (sie stammen, fast überrascht es nicht, von den Etablierten) sind zugleich auch diejenigen, die am schwächsten sind in ihrer thematischen Aussage. Aber noch in ihrem bisweilen glatten Dilettantismus sind die Bilder, Skulpturen, Collagen oder montierten Objekte doch alle ehrlich, kreativ und sie sprechen. Sie sprechen zu einem Publikum, das so zahlreich erschien, daß die Ausstellung verlängert werden mußte. Sie löste auch, für viele vielleicht zum erstenmal, unmittelbare politische Gespräche, Diskussionen und oft ganz persönliche Bekenntnisse aus: „wäre mein Mann damals desertiert, vielleicht lebte er heute noch.“

Man gab dem Ganzen den Titel jener noch immer fast allein dastehenden Novelle des fahnenflüchtigen Alfred Andersch, der 1944 in Italien den damals noch florierenden Krieg verließ: „Die Kirschen der Freiheit“. Man hatte Gerhard Zwerenz eingeladen zu einer Lesung, der endlich einmal wieder die schlichte Wahrheit ausgesprochen hatte: „Soldaten sind Mörder“, und man ließ den Historiker Norbert Haase sein Buch “ Deserteure“ vorstellen, in dem er aufgrund gründlicher Recherchen die Lebensläufe von Fahnenflüchtigen zusammenstellte - wenige waren es, und doch mehr, als wir bisher wußten und sicher noch viel mehr, als bis heute namentlich bekannt sind. Denn das Odium des Verräters, Drückebergers und Feiglings haftet ihnen noch immer an jedenfalls solange, wie Wehrdienstverweigerer, weil sie nicht zum Töten ausgebildet werden wollen, die Ausnahme sind und sich rechtfertigen müßen, dafür daß sie sich weigern zu töten. Statt daß, wie es sein sollte und denkmöglich gemacht wird u. a. durch eine Initative wie die diese, der Tötungswillige die Ausnahme wäre und sich zu rechtfertigen hätte.

Inzwischen ist die Ausstellung abgebaut und wartet im Museums-Magazin darauf, auf Wanderschaft zu gehen. Aber sie sollte dann ergänzt werden können, erweitert um Beiträge aus der unmittelbaren Umgebung jener Städte, die die Initative der Gelsenkirchener Gruppe aufnehmen und fortführen wollen. Den vorzüglich gestalteten Katalog (DM 20) kann man in jedem Falle anfordern. Kontaktadresse: Aktion gegen den Krieg, Dietmar Clermont, Von-der-Recke-Str. 9, 4650 Gelsenkirchen.