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Memminger Freispruch, der vieles verändert

Richter durchbricht Serie von Verurteilungen in Abtreibungsprozessen / Magdalena Federlin wird in Berufungsverhandlung freigesprochen / Richter: Keine unüberwindlichen Anforderungen an Indikation stellen / Staatsanwalt sah keine Notlage  ■  Aus Memmingen K. Wittmann

Das Bild hat es in sich: Der wegen 156 illegalen Abtreibungen angeklagte Dr.Horst Theissen, der am 27.Dezember 50 Jahre alt wird, trägt das Baby der Angeklagten in den Saal des Memminger Landgerichts. Auf dem Platz, wo sonst er im spektakulären Memminger Abtreibungsprozeß sitzt, sitzt jetzt die Frau, die im November 1984 bei ihm hat abtreiben lassen. Magdalena Federlin ist deswegen im April dieses Jahres vom Amtsgericht der 38.000-Einwohner-Stadt zu 900 Mark Geldstrafe, ersatzweise zu 30 Tagen Haft, verurteilt worden. Theissen, der sofort von Journalisten umringt ist, stellt den Bastkorb etwas verlegen neben der Angeklagten ab und begibt sich dann in den Zuschauerraum.

Wenig später eröffnet der Vorsitzende Richter Stefan Falckenberg die mit Spannung erwartete Berufungsverhandlung. In diesem Moment ahnt im großen Sitzungssaal des Memminger Landgerichts noch niemand, daß an diesem Dienstag abend ein Urteil gesprochen wird, das getrost als spektakulär bezeichnet werden darf und das den Memminger Abtreibungsprozessen einen neuen Aspekt verleiht; das vielleicht sogar die an diesem Tag so oft zitierte „Wende in Memmingen“ darstellt.

Doch zunächst einmal muß die Angeklagte in peinlicher Ausführlichkeit darlegen, warum sie sich 1984 in einer so großen sozialen Notlage befunden hat, daß ihr keine andere Wahl geblieben war, als die Schwangerschaft abzubrechen. Diese Offenbarung intimster Dinge, die dem Staatsanwalt immer noch zu wenig detailliert sind, hat die meisten der über 150 mit Strafbefehlen belegten Frauen bewogen, auf Rechtsmittel zu verzichten.

Die 28jährige Frau, die ihr zweieinhalb Monate altes Baby zur Verhandlung mitgebracht hat, schildert in der gewünscht ausführlichen Weise ihren Lebenslauf. Als fünftes von acht Kindern ist sie unter beengten Verhältnissen aufgewachsen. Die Eltern, ständig von einem zermürbenden Existenzkampf gequält, konnten sich nur wenig um sie kümmern. Urlaub gab es für Magdalena Federlin bis zum 22.Lebensjahr nicht. Als sie dann von ihrer ersten Auslandsreise zurückkommt, ist sie schwanger. Ihr geplantes Studium müßte sie aufgeben, wenn sie das Kind zur Welt brächte. Der Vater des Kindes empfindet die Schwangerschaft als eine enorme Belastung der Beziehung. Magdalena Federlin bekommt das erforderliche Attest für einen Abbruch, weil sie sich in einer sozialen Notlage befindet. Ihre finanziellen Verhältnisse sind ausgesprochen angespannt, von den Eltern ist keine Unterstützung zu erwarten, und ihr Partner ist stark alkoholkrank.

Sie fährt nach München zur Untersuchung, bekommt einen Termin für den Abbruch. Ihr Krankenbett ist reserviert. Wenige Tage vor dem Eingriff entschließt sie sich, das Kind doch auszutragen und auf das Studium zu verzichten. Sie will einen kleinen Naturkostladen eröffnen, um bei ihrem Kind sein zu können. Dazu muß sie mehrere Darlehen aufnehmen.

Ein halbes Jahr nach der Geburt des ersten Kindes ist Magdalena Federlin erneut schwanger. Die Beziehung zu ihrem Partner bricht auseinander. Sie ist am Ende ihrer Kräfte. Das Kind zu bekommen hieße, den Laden als einzige Existenzgrundlage aufgeben zu müssen.

Sie fährt zu Dr.Theissen und läßt nach erneuter Beratung abtreiben. Das Kind auszutragen und dann zur Adoption freizugeben oder in ein Kinderheim zu geben käme für sie niemals in Frage, erklärt sie.

Der 34jährige ledige Staatsanwalt Herbert Krause, Ankläger auch im Theissen-Prozeß, pocht jedoch genau auf diese Möglichkeiten. Und er will von der Angeklagten wissen, wieviel ihr Partner tatsächlich jeden Tag getrunken habe und ob sie das Kind nicht doch hätte austragen und zu ihren Eltern geben können.

Er kann bei Magdalena Federlin keine Notlage erkennen und beantragt Schuldspruch. Er fordert eine Strafe von 40 Tagessätzen zu je 25 Mark.

Nach einer halbstündigen Beratung verkündet der Vorsitzende Richter Falckenberg das Urteil: Freispruch. Eine strafbare Handlung, so der Richter, sei nicht nachzuweisen. Unüberwindliche Auflagen an eine Indikation zu stellen, wie es die Staatsanwaltschaft getan habe, scheine ihm unangemessen. Von einer Schwangeren könnten auch nicht - so heißt es in einem in Memmingen vielzitierten BGH-Urteil über ein gewisses Maß hinaus Opfer verlangt werden. Die Notlage im vorliegenden Fall sei durchaus vergleichbar mit einer medizinischen Indikation. Die Verhandlung, so der Richter, habe eindeutig ergeben, daß für die Angeklagte eine ernsthafte Gefährdung des Lebensweges bestanden habe. Sie hätte mit zwei Kindern zu diesem Zeitpunkt den Laden als einzige Einkommensquelle aufgeben müssen und nach Ansicht der Kammer kaum mehr beruflich anderswo Tritt fassen können.

Die vom Staatsanwalt mehrfach angesprochenen staatlichen Hilfen seien in solchen Notlagen oft nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Eine Adoption oder Heimunterbringung scheide schon aus rechtstheoretischen Gründen aus, denn beides wäre grundsätzlich immer möglich. Wenn man so argumentieren wollte, hätte eine soziale Indikation ihren Sinn verloren. Außerdem dürfe nicht vergessen werden, so Richter Falckenberg, daß die Familie unter dem ganz besonderen Schutz des Grundgesetzes (Artikel 6) stehe und das Grundgesetz sogar die Trennung von Mutter und Kind verbiete. Die Kammer habe die Angeklagte als verantwortungsvolle Person kennengelernt und wäre wegen eines sogenannten unvermeidbaren Verbotsirrtums selbst dann zu einem Freispruch gekommen, wenn die Notlage nicht für ausreichend schwer erachtet worden wäre.

Außerdem, so der Vorsitzende Richter, wisse jeder, daß einer Frau die Entscheidung, ihre Leibesfrucht abtreiben zu lassen, gewiß nicht leicht falle.

Die Freude bei der Angeklagten und ihren Anwältinnen ist groß. Von einer Wende für die gesamten „Memminger Prozesse“ ist die Rede. Die zwei weiblichen Landtagsabgeordneten im Zuschauerraum - die Grüne Margarete Bause und ihre SPD -Kollegin Uschi Pausch-Gruber - werten übereinstimmend das Urteil als ein „ganz bedeutendes“.

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