: Konventionelle Nato-Abrüstung nur symbolisch
Die ersten freundlichen Reaktionen aus einigen westlichen Hauptstädten auf Gorbatschows Ankündigung sehr konkreter einseitiger Abrüstungsschritte sollten über die tatsächliche Lage nicht hinwegtäuschen. Das lang erwartete Positionspapier der Nato für die geplante Wiener Konferenz über konventionelle Rüstungskontrolle in Europa (KRK), das die Außenminister der Allianz heute in Brüssel verabschieden wollen, ist kein Indiz für Bereitschaft und Fähigkeit der westlichen Militärallianz zu einer konstruktiven Reaktion auf Gorbatschows Kurs.
Die Nato fordert in ihrem Verhandlungspapier durch die Bank gemeinsame Obergrenzen vor allem bei jenen Waffensystemen, bei denen sie den Warschauer Pakt im zahlenmäßigen Vorteil sieht. Keine einzelne Waffenkategorie soll künftig mehr als 30 Prozent des Gesamtpotentials ausmachen. Auf der Basis der von der Nato Ende November vorgelegten West-Ost-Streitkräfte -Zahlen bedeutete dies eine Reduzierung auf östlicher Seite der jetzigen Waffenbestände um durchschnittlich zwei Drittel, im Westen jedoch nur um fünf bis zehn Prozent.
So verlangt das Dokument beispielsweise die Verschrottung von 37.000 der 51.000 östlichen Kampfpanzer, während auf westlicher Seite nur 2.000 der 22.000 verschwinden sollen. Entsprechendes gilt für Artillerie, Schützenpanzer, Luftabwehrwaffen, panzerbrechende Waffensysteme und Hubschrauber, bei denen die Nato jeweils eine 2:1- bis 3:1 -Überlegenheit der anderen Seite konstatiert. Verlangt werden auch Obergrenzen für Truppenstärken, die zu massiven Einschnitten bei den sowjetischen Truppen in anderen Staaten des Warschauer Paktes führen würden, bei der Nato aber nur zu einer Reduzierung um rund 5 Prozent.
Die Nato-Zahlen über die östlichen Waffensysteme stammen aus westlichen Geheimdienstquellen und weichen in einigen Punkten von Angaben neutraler sicherheitspolitischer Institute ab. Der Warschauer Pakt hat die Nato-Zahlen zwar als „übertrieben“ zurückgewiesen, aber bislang zumindest öffentlich keine Angaben über den eigenen Bestand als Positionspapier für die Wiener Verhandlungen vorgelegt. Der Austausch von Daten über die jeweiligen Bestände und ihre Verifizierung sind der erste große Block der KRK -Verhandlungen, die nach Angaben von Diplomaten beider Seiten um die Jahreswende beginnen können. An diesem Punkt sind die Wiener MBFR-Verhandlungen nach fünfzehn Jahren schließlich gescheitert.
Eine Lösung dieser Frage scheint nach den Angeboten Gorbatschows sowie den positiven Verifikationserfahrungen beim Mittelstreckenvertrag möglich. Doch die eigentlichen Probleme beginnen erst danach: Der Nato-Vorschlag berücksichtigt die selbst von US-Regierungsfachleuten inzwischen eingeräumten überlegenen Qualitäten vieler westlicher Waffen nicht. Das gilt vor allem für Flugzeuge, die die Nato so weit wie möglich aus den KRK-Verhandlungen heraushalten möchte.
Weil sie an einem Beginn der Verhandlungen dringend interessiert ist, hat die UdSSR diesem Ansinnen bei den Gesprächen zur Festlegung des Verhandlungsmandates nachgegeben und sich außerdem auf den Kompromiß eingelassen, Atomwaffen kürzerer Reichweite zunächst auszuklammern. Das heißt: „Dual-capable-Systeme“ (mit atomaren oder konventionellen Sprengköpfen zu bestücken) werden zunächst nur in ihrer Eigenschaft als konventionelle Waffen behandelt. Auf genau diesen beiden Waffengebieten findet jedoch die als „Modernisierung der Nato beschriebene Aufrüstung statt. Die geplanten Nachfolgesysteme für die Lance-Raketen sind „dual capable“.
Die wichtigsten Anschaffungen auch für die Bundeswehr sind neue Tornado-Flugzeuge sowie der „Jäger90“. Diese und andere Kampfflugzeuge sollen mit Abstandswaffen mit bis zu 1.500 Kilometer Reichweite ausgerüstet werden. Sie sind ebenfalls zum Teil wahlweise mit konventionellen oder atomaren Sprengköpfen auszurüsten. Im rein konventionellen Bereich schafft die Bundeswehr entsprechend der 1984 verabschiedeten Langzeitplanung - vor allem neue Panzer (LeopardII) sowie eine große Menge sogenannter „intelligenter Munition“ an.
Ein wirklicher Abrüstungseffekt bei den Wiener Verhandlungen würde einen erheblichen Abbau der vorhandenen Potentiale beider Seiten auf etwa 50 Prozent der jetzigen westlichen Potentiale voraussetzen, ebenso wie deutliche Reduzierungen der Rüstungsbudgets, um zu verhindern, daß es statt Abrüstung lediglich zu einer Konzentration der Anstrengungen auf hochtechnologische Waffensysteme kommt. Den Vorschlag des Warschauer Paktes, über die Budgets zu verhandlen, hat die Nato jedoch abgelehnt. Geht man von ihrer jetzt vorliegenden Position aus, bezweckt die Nato mit den Wiener Verhandlungen offensichtlich eine möglichst wirksame zahlenmäßige Schwächung der Warschauer-Pakt -Truppen, um die technologische Überlegenheit des Westens voll zur Geltung bringen zu können. Selber ist sie bestenfalls zu symbolischen Reduzierungen bereit. Es ist kaum vorstellbar, daß die UdSSR sich darauf einläßt.
Andreas Zumach, Genf
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