: Wiz - Der Stalinismus und die Intellektuellen
■ Zum Tode Wieland Herzfeldes
Michael Rohrwasser
Der Expressionist & Literaturagent, Verleger & Parteifunktionär Wieland Herzfelde hat einige Bücher nicht geschrieben, darunter seine Erinnerungen. Er hätte viel zu erzählen gewußt; er wußte zu schweigen. Befragt nach Herzfeldes auffälligster Eigenschaft antwortet einer seiner alten Bekannten: „Er hatte sich stets unter Kontrolle, nie hat er die Beherrschung verloren, ganz im Gegensatz zu seinem für cholerische Ausbrüche bekannten Bruder John Heartfield.“
Herzfeldes Eintritt in die Literatur begann am 30.November 1913 mit einem schönen Brief an Else Lasker-Schüler:
„Ich bin siebzehneinhalb Jahre alt, Unterprimaner, Freund der Künste und der Kultur, hoffe, ein Dichter zu werden, wohne in Wiesbaden, Oranienstraße 43, II, in Pension. Ich bin 1,65 groß, habe dunkelbraune Haare, blaue, runde Augen mit großen schwarzen Pupillen, braune Haut und einen länglichen Kopf. Ich bin auf die Zeitschriften 'Sturm‘, 'Aktion‘, 'Anfang‘, 'Revolution‘ und auf die 'Weißen Blätter‘ abonniert. Mit mir bin ich zufrieden, ausgenommen meiner Primanerwürde, deretwegen ich mich fast an keinem Morgen richtig ausschlafen kann.“ Er schreibt ihr von den Eltern, die im „Irrenhaus“ gestorben sind. Daß die Manuskripte der Mutter von den Angehörigen verbrannt wurden und die des Vaters im Mai 1912 erschienen sind (Franz Held, Ausgewählte Werke): „An diesem Tag entschloß ich mich, Dichter zu werden.“
Lasker-Schüler schreibt bald darauf in einer Ankündigung der „Kaiserwerdung“ ihres Prinzen Jussuf, daß als Gast auch der „jüngste Spielgefährte Wieland Herzfelde aus Wiesbaden“ dazu geladen sei. Ihr schuldet er auch den Namen seines 1917 gegründeten Malik-Verlags.
Wieland Herzfelde und Malik: Zentrum der Nachrufe. Hatte er nicht wenigstens einen Koch dabei? John Heartfield und George Grosz, der Herzfelde den Namen „Wiz“ gab, gehören zu den Verlagsgründern; Herzfelde hat sie überlebt. Elias Canetti entwirft ein freundliches Porträt Herzfeldes im zweiten Teil seiner Lebensgeschichte. Herzfeldes eigentliche Kraft sei die Bindung an seinen Bruder Helmut gewesen, der aus Protest gegen den Krieg seinen Namen offiziell in John Heartfield geändert hatte. Wiz, verliebt in die Idylle seiner Kindheit, habe in einem zynischen Berlin am Bild des unschuldigen Waisenknaben festgehalten. Sein 1949 veröffentlichtes Bändchen Immergrün, in dem er ein paar verklärte Blicke auf sein Leben wirft und dabei viele Lücken läßt, trägt den Untertitel: „Merkwürdige Erlebnisse und Erfahrungen eines fröhlichen Waisenknaben.“
Im Exil geht Herzfelde 1933 nach Prag, gründet dort die Zeitschrift 'Neue Deutsche Blätter‘, eine Literaturzeitschrift im Zeichen der Volksfront, von Becher als Gegengewicht zu Klaus Manns 'Sammlung‘ ausersehen. Die Zeitschrift war so gut, daß sie in „Trotzkismus-Verdacht“ geriet und von der KP erdrosselt wurde. Sie muß der neuen Moskauer Zeitschrift 'Das Wort‘ Platz machen, der „verkommensten Zeitschrift, die jemals von deutschen Intellektuellen herausgegeben worden ist“, wie der Trotzkist Walter Held 1938 schrieb. Der Exilforscher David Pike berichtet aber von den verklärenden Erzählungen Herzfeldes, der sich an die finanzielle Unterstützung seiner Zeitschrift durch die Komintern nicht mehr erinnern will; Wiz entwirft das Selbstbild eines Literaturfreundes, kaltgestellt durch die Partei.
1934 reist Wiz nach Moskau, zum Schriftstellerkongreß. Karl -Heinz Jakobs erinnert sich, über der Frage, wie Intellektuelle im Stalinismus miteinander umgingen, an das, was ihm Herzfelde von Moskau 1934 erzählte:
„Radek hatte eine Rede gehalten über Fehlentwicklungen in der modernen Literatur, zum Beispiel Joyce. Er wußte selbst nicht, wie es dazu gekommen war, daß ihm das Wort erteilt worden war, jedenfalls hielt Herzfelde eine Rede, in der er Joyce verteidigte. Genaugenommen, beteuerte er später, sei er bei Radeks Rede nicht im Saal gewesen, sie war ihm auch nicht hinterbracht worden, es sei ein Zufall gewesen, daß er in seinem ohne Manuskript gehaltenen Diskussionsbeitrag auf Joyce zu sprechen kam. Als er hinterher das Quartier der deutschsprachigen Schriftsteller betrat, saßen sie alle dumm da und schauten ihm nicht in die Augen. Was denn los sei mit ihnen, hatte Herzfelde gefragt. Du wirst schon sehen, was los ist, hatte Becher gesagt, erschossen wirst du. Nachdem sich Herzfelde ausgeschüttet hatte vor Lachen über den gelungenen Spaß im Stil eines Studentenulks, sagte Becher: Wart's nur ab, dir wird das Lachen noch vergehen. Bredel war anwesend und Oskar Maria Graf, auch sie verstört. (...) Was er denn getan habe, fragte Herzfelde. Das wisse er nicht, schrie Becher, er wisse nicht, wem er widersprochen habe? Wie habe er es sich unterstehen können, Radek zu widersprechen.“
Wiz entschließt sich, in dieser Nacherzählung von Jakobs (Das endlose Jahr), zur Flucht nach vorn, er spricht noch in derselben Nacht bei der Komintern vor. Knorin hört sich seine Befürchtungen an, erkundigt sich schließich bei Paul Reimann, dem Prager Literaturhistoriker, nun im Range eines sowjetischen Oberstleutnants, ob es einen Beschluß des Zentralkomitees gebe in bezug auf den englischen Schriftsteller James Joyce. Als Reimann verneint, kann Knorin Herzfelde beruhigen. Das entspricht Wiz‘ eigener Erzählversion. In der DDR-Zeitschrift 'Sinn und Form‘ (H.6, 1976) erinnert er sich dieser Begebenheit so, als sei er als Verteidiger von Joyce beinahe ein Opfer des Stalinismus geworden.
Auch Oskar Maria Graf berichtet von der Joyce-Episode; seine Reiseerinnerungen sind 1974 zum ersten Mal veröffentlicht worden (in der DDR-Ausgabe von 1979 strengt sich Rolf Recknagel an, Grafs Erzählung zu korrigieren: „Auch hier wird Grafs Abneigung gegen den politisch organisierten Kampf deutlich“). Graf:
„Ich erinner mich noch sehr lebhaft an die geschäftig -heiteren Nächte im Hotel, als es hieß, meine deutschen Kollegen kämen nun als Redner an die Reihe. Mein Freund Wieland Herzfelde, dem, wie uns allen, die oberflächlichen Ausführungen Karl Radeks über James Joyce äußerst mißfallen hatten, wollte dagegen polemisieren. Wieland verfaßte eine ziemlich treffsichere Erwiderung, die mir sehr gut gefiel. Auch Plievier schrieb an einer Rede. (...) Mir fiel auf, daß am anderen Tag die Reden der beiden ganz anders klangen. (...) 'Mensch, gestern war alles viel besser, als Du es mir vorgelesen hast... Warum bist Du denn so zahm gewesen?‘, fragte ich ihn in bezug auf seine Rede. Und da erfuhr ich, daß meine überängstlichen gründlich deutschen Kameraden gestern nacht noch den Text ihrer Reden bei einer Sitzung vorgetragen hatten und daß man diese Texte entsprechend korrigiert hatte. Die Parteiinstanzen hatten das letzte Wort gesprochen. 'Was will man da machen‘, brummte Wieland. 'Zensur war das also nicht?‘, fragte ich, ein wenig schmunzelnd. 'Nein... Wir haben uns eben besprochen‘, meinte er.“ Graf strich in seinem Manuskript noch den Satz: „Er war diszipliniertes Parteimitglied.“
Von beiden Erzählungen ist die Grafsche schon darum genauer, weil Wiz in seiner Joyce-Rede explizit Bezug nahm auf die Angriffe Radeks; Herzfeldes Rede wurde dann auch in der 'Internationalen Literatur‘ (Mai 1934) abgedruckt, was nach der Jakobs-Variante wenig plausibel wäre. Die Variante von Jakobs und Herzfelde zeigt aber, wie letzterer seine Lebensanekdoten zu schmieden wußte.
Ungleich problematischer steht es mit jener Episode, die sich in Prag abspielte und von der immer wieder mündliche Erzählungen die Runde machten. Der deutsche Autor Ernst Ottwalt (Ruhe und Ordnung, Denn sie wissen, was sie tun, Malik-Verlag 1929 und 1931) war im November 1936 in Moskau verhaftet und 1937 als „Gestapo-Agent“ erschossen worden. Ein Redaktionskollege Herzfeldes aus der Prager Exilzeit hat behauptet, daß Wiz es gewesen sei, der Ottwalt denunziert habe. (Der letzte Wunsch des Mitwissers: daß nicht Herzfelde an seinem Grab spreche; Herzfelde hat es dann doch getan.) Andreas Mytze rekonstruiert in seiner Ottwalt-Biographie, daß Wiz Ottwalt denunziert habe; Mytze entschärft die Druckfassung, läßt aber den Rezensenten Fritz Raddatz das Manuskript lesen: Wiz ein Mörder. Von mehr als einer Seite habe auch ich diesen Bericht der Denunziation vernommen. Zwei Fragen: Was mag da dran sein? Und: Darf man das ohne Beweise weitererzählen?
Das Opfer ist immer unschuldig, der Überlebende schuldig: Auf dieser Ebene behält der Vorwurf eine allgemeine Plausibilität. Faktum ist auch, daß der Stalinist zur Denunziation angehalten war („revolutionäre Wachsamkeit“ hieß das Motto). Herzfelde soll in Prag den Eindruck gewonnen haben, daß Ottwalt seine Wohnung durchsucht habe (das paranoische Zeitalter), und Herzfelde soll ein Telegramm aus Deutschland an Ottwalt gelesen haben, in dem diesen der Tod seines Vaters mitgeteilt wird. Da aber Ottwalts Vater schon im Januar 1934 gestorben war, habe Herzfelde das für eine fingierte Botschaft gehalten, ein Indiz für den Verdacht, daß Ottwalt, der von der Rechten zur KPD gestoßen war, Gestapo-Agent gewesen sei. Herzfelde hätte als funktionierendes Parteimitglied seine Pflicht (der „revolutionären Wachsamkeit“) getan, indem er seinen Verdacht meldete. „Befehl ist Befehl und Parteidisziplin ist Parteidisziplin“, heißt es in der 'Sputnik'-Ausgabe, die in der DDR verboten wurde. Zum anderen: Der Stalin-Terror, so sehr er auf Denunziationen als Beweis der Fügsamkeit des Denunzierenden baute, war in seinen Grundzügen ein numerischer. NKWD-Bezirke hatten ihr „Plansoll“ an verhafteten „Volksfeinden“ zu erfüllen; wer von den Terminen wußte, versuchte zur entsprechenden Zeit den Bezirk zu verlassen. Ein ehemaliger Rechter und Freikorpssoldat wie Ottwalt, der, wenn er betrunken war, nationalistische Lieder sang, war außerdem durch seine Vergangenheit prädestiniert für die Anklage als Gestapo-Agent. Tenor der Moskauer Presse während der „Säuberungswellen“: „Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß jeder Ausländer in Sowjetrußland ein Agent ist“ (zit. n. Roy Medwedew). Hätte Herzfeldes Denunziation in diesem Kontext eine entscheidende Rolle gespielt?
Sollte aber nicht die Kritik des Stalinismus darauf verzichten, die Denunziationen durch den fügsamen Stalinisten mit einer ebenso beweislosen „Denunziation“ zu erwidern, auch wo diese die Indizien auf ihrer Seite hätte? Freilich ist das Festhalten eines hartnäckigen Gerüchts nicht mit der tödlichen Denunziation in Moskau zu vergleichen, und freilich ist die Spekulation notwendiges Element einer literaturgeschichtlichen Recherche, die auf Indizien angewiesen ist. Schließlich gibt es eine Verpflichtung gegenüber dem/den Opfern. Mytze hat mehrfach mit Wiz gesprochen. Herzfelde, dessen Vorträge auch noch 1970 vom stalinistischen Jargon („trotzkistische Verräter“) geprägt sind, habe Ottwalt auch nach dessen Rehabilitierung für einen Verräter gehalten. Wäre dem nicht so, hätte Herzfelde sich mit seiner stalinistischen Vergangenheit auseinandersetzen müssen.
Bevor Wiz in New York zusammen mit Freunden den Aurora -Verlag gründete, betrieb er eine florierende Briefmarkenhandlung bei einer New Yorker U-Bahn-Station. Nach seiner Rückkehr in die DDR teilte er das Schicksal der meisten Westemigranten: Vom Staat hofiert und gefördert mit hohen Auszeichnungen und Positionen (Lehrstuhl für Soziologie in Leipzig, Vizepräsident der Akademie der Künste, Vorstandsmitglied der PEN-DDR, Vaterländischer Verdienstorden, Stern der Völkerfreundschaft), wird er als „Dichter“ und Verleger schnell auf ein Abstellgleis geschoben. Er erfuhr das Mißtrauen, das fast allen Westemigranten galt. Sein Aurora-Verlag wurde dem Aufbau -Verlag eingegliedert. Weder ihm noch seinem Bruder Heartfield gelang es, an ihre intensive Produktion während der zwanziger Jahre und des Exils anzuknüpfen. Ein mit Ehrungen kaltgestellter Funktionär, dessen Erinnerungen den eigenen Frieden sichern mußten. Auch ein Opfer des Stalinismus?
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