Im Lande Klaustrophobia

■ Seit Sonntag im Übersee-Museum: „Japanische Architektur. Geschichte und Gegenwart“: Die intimen Blicke in die beengten Schachtelwohnungen bleiben uns aber verwehrt

Vor über zehn Jahren erschien in einer deutschen Farbillustrierte ein Bildbericht über Japan. Ein öffentliches Schwimmbad zum Beispiel, dessen Badebecken nicht einziges Molekül Wasser preisgab - es war bis an seine Ränder mit Menschen gefüllt. Sogar zwei Schlauchboote dümpelten in diesem Leiberchaos. Ein anderes Bild zeigte einen kleinen Binnensee, der mit langen schmalen Holzstegen zugedeckt war, auf denen dicht an dicht japanische Menschen saßen, die ausnahmslos eine Angel in der Hand hielten. Diszipliniert und stoisch hockten sie da und warteten auf ihr Glück.

Neben vielen anderen Dingen manifestieren diese Bilder ein Grundproblem der japanischen Gesellschaft. Es gibt in Relation zum vorhandenen Raum signifikant viele Menschen. Der Inselstaat Nippon besteht zu weiten Teilen aus vulkanischen Bodenformationen, die eine flächendeckende Besiedelung oder Nutzung nicht zulassen. Da sich die Menschen im Land der aufgehenden Sonne für bahnbrechende Zivilisationsneuerungen nie zu schade sind, geht die Kompensation der Enge sogar soweit, daß über Stadtautobahnen schalenförmige Brücken gebaut werden, auf (oder besser in) denen Tote bestattet werden.

Wenn Europäer mit einer spezifisch japanischen Architektur konfrontiert werden, handelt es sich meistens um Jahrhunderte alte traditionelle Bau- und Gestaltungsformen. Papierschiebetü

ren, Tatamimatten, spärliche Einrichtungen und der obligate Blick in den sorgfältig geharkten Steingarten sind die wohl bekanntesten Versatzstücke, von den mehrgeschössigen geschwungenen Pagoden mal ganz abgesehen. Im Überseemuseum wurde am Wochenende die Photoaustellung Japanische Architektur Geschichte und Gegenwart eröffnet. Diese in Zusammenarbeit von Goethe-Institut und Deutsch-Japanischer Gesellschaft konzipierte Bilderschau akzentuiert in besonderem Maße die für uns „Langnasen“ bedrückenden Platzprobleme, und das gleich in zweifacher Hinsicht. In einem Land, in dem bebauungsfähige Grundflächen nicht nur rar, sondern auch teuer sind (in Tokyo sind Quadratmeterpreise von DM 150.000 keine Seltenheit) wird lieber in die Höhe als in die Breite oder Länge gebaut. Das japanische Empfinden ist aber auf klar gegliederte Flächen und integrierte Raumsynthesen ausgerichtet, der Blick soll schweifen können und nicht schon nach wenigen Metern durch klobige Einrichtungsgegenstände abgeblockt werden. So ist es zu erklären, daß bei der Auswahl der Bildbeispiele in der Mehrheit weitläufige und großzügige architektonische Einheiten gewählt wurden, die so wenig vom katastrophalen Wohnungsgedränge vermitteln.

Posthauptgebäude im Neo-Klassizistischen Stil, Sommerhäuser mit schmucklosen Außenfassaden aber extrem verschachtelten Kiefernholzinterieurs und

Wohnblocks auf Stelzen mit präzisen Bauhaus-Einflüssen bestimmen den visuellen Eindruck, räumliche Atmosphäre läßt sich auf Photos natürlich schwer transportieren. Die größte Auffälligkeit und Gemeinsamkeit der ausgestellten Exponate ist der in der Gesamtheit durchaus gelungene Ansatz einer interstilistischen Ost-Westfusion, ohne dabei die traditionellen Werte zu „verrraten“.

Es sei denn, das Ausgangsbild des überfüllten Schwimmbades wird auch hier bemüht, oder das berühmte Kapselhaus in Tokyo mit seiner grotesken Vielfach-Würfelkonstruktion mit Blick auf eine Autobahn. Doch die eher intimen Blicke in die beengten Schachtelwohnungen der überwältigenden Mehrheit bleiben uns verwehrt. Leider.

Jürgen Francke