: 1.-Mai-Urteile revidiert
■ Erstinstanzliche Urteile im Steinewerfer-Prozeß deutlich abgemildert / Erinnerungsvermögen der Wannenbesatzung schwach
In der Berufungsinstanz änderte gestern die 5. Große Strafkammer zwei Urteile wegen schweren Landfriedensbruchs am 1. Mai 1988. Der 24jährige Norbert D., in erster Instanz zu achtzehn Monaten Knast verurteilt, wurde freigesprochen. Der 21jährige Volker F., der einen Steinwurf gestanden hatte und ebenfalls zu achtzehn Monaten verurteilt worden war, wurde zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Das Gericht machte ihm dem Besuch einer „therapeutischen Einrichtung“ außerhalb Berlins zur Auflage, wo er einen Schulabschluß machen und einen Beruf erlernen soll. Der freigesprochene Norbert D. bekommt keine Entschädigung für das gute halbe Jahr U-Haft. Norbert D. und Volker F. waren in der fünften Etage eines Hauses in der Oranienstraße verhaftet worden, nachdem sie von der Besatzung einer Wanne in der Nähe einer Barrikade gesehen worden waren. Zwei Steine waren geflogen, als die Polizisten ihr Gefährt verließen. Während Volker F. im August vor einem Schöffengericht gestanden hatte, einen Pflasterstein geworfen zu haben, beharrte Norbert D. auch im Berufungsverfahren auf seiner Unschuld. Seine Verurteilung hatte in der ersten Instanz auf der Identifizierung durch einen einzigen Polizisten beruht. Der Beifahrer der Wannenbesatzung wollte D. auf eine Entfernung von mindestens 25 Metern an seiner Haartracht erkannt haben. Als die Kammer in der Berufungsverhandlung deutlich machte, daß ihr dieses Identitätsmerkmal nicht ausreichte, postulierte der Polizist, er habe das Gesicht D.s bei der Festnahme erkannt und ihn als zweiten Steinewerfer ausgemacht. Doch der Vergleich mit den vagen Aussagen seiner Kollegen ließ die Behauptung des Beifahrers unglaubwürdig erscheinen. Die Kammer gewann den Eindruck, der Polizist finde „unzumutbar“, daß ihm ein Irrtum unterstellt werde. Auch die Identifizierung per Frisur reichte ihr nämlich nicht aus. D.s Haartracht habe, so die Urteilsbegründung, derjenigen der meisten Barrikadenbetrachter entsprochen, die ein Zeuge aus der Szene mit „wie ein Pumuckl“ beschrieben hatte. Und sie sei, wie die Kammer an der zahlreichen Zuhörerschaft erkannte, in der Szene weit verbreitet.
Wvb
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