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Götterfunken

■ Beethoven simultan und weltweit über Satellit

Vor wenigen Stunden ging ein denkwürdiges Musikereignis zuende. Letzte Nacht um 3 Uhr MEZ wurde zum ersten Mal in der Geschichte die Finalhymne aus Beethovens Neunter Symphonie an vier Orten der Erde gleichzeitig gesungen und abgemischt in alle Welt übertragen. Trotz intensiver Bemühungen fand sich kein deutscher Sender bereit, die Sendung live zu übernehmen. Musikalische Leitung hatte das World Philharmonic Orchestra, bei dem allein im kanadischen Montreal 106 Musiker aus 60 Nationen teilnahmen. Als zur FREUDE an den SCHÖNEN GÖTTERFUNKEN geblasen wurde, splittete sich der Bildschirm, um die simultan und vermutlich sogar im Takt mitsingenden Chöre in Montreal, Moskau, San Francisco und Genf zu zeigen. Die bei der Satellitenverbindung entstehende Zeitverzögerung wurde mit komplizierten Delays ausgeglichen.

Beethovens Live-Publikum versammelte sich, neben den genannten vier Hauptspielstätten, auch in Santa Fe, Tokio, Sydney, New York, Washington und Paris; und das nicht vor kleinen Individualglotzen, sondern massenhaft vor öffentlichen Videoleinwänden, auf die das Konzert übertragen wurde. Schwungrad hinter der Geschichte ist das Megavision Projekt der „Assoziation Moskauer Kooperativen“, vertreten durch den quirligen russischen Futurologen Joseph Goldin. Er ist gerade auf seiner ersten USA-Reise und ruft überall zu einer „Perestroika des Bewußtseins“ auf. Auch vor Besuchern des „Forum Futurum“ in Berlin und bei einer Veranstaltung in Tübingen hat Goldin bereits dazu gesprochen - über eine Videoleitung aus Moskau. Auf die Frage, was das Besondere an dieser Art von Fernsehbrücke (englisch: spacebridge; russisch: telemost) sei, antwortete Goldin: „Ein Dialog entwickelt sich nicht nur, wie beim Telefonieren, zwischen Individuen, sondern zwischen großen Gruppen von Menschen. Diese Möglichkeit gibt es erst mit der Satellitentechnologie.“ Dementsprechend konnten im Anschluß ans dezentrale Beethoven-Konzert die dezentralen Publikumsgruppen per Satellit miteinander in Austausch treten. Die Videoleinwand als globale Polis, Mehrwegparty statt Einwegsberieselung.

Im San Franciscoer Fort Mason Zentrum, einer mittlerweile von Alternativprojekten bewohnten ehemaligen Armeeanlage, kamen mehrere tausend Besucher zusammen, die zu den Leuten in Moskau, Montreal, Genf und anderswo mindestens winken wollten.

Apropos Armee: Von sowjetischen Ofiziellen wurden dem „Megavison Projekt“ fünf abgerüstete SS-20-Transporter geschenkt. Sie werden mit Videoleinwänden versehen und sollen demnächst die europäischen Marktplätze bereisen: als mobile Spacebridge-Stationen für Glasnost-Kultur und elektronische Weltkommunikation. Wenn heute nacht der elektronische Premierenvorhang über Beethovens Ode fiel, dann nur, weil sich einige Leute gesagt haben, daß in einer Zeit, in der alles möglich ist, es auch von heute auf morgen möglich sein muß. Fast. Denn der deutsche Äther erstrahlte vorerst noch im Glanze seines öffentlich-rechtlich-privaten Sendeschlusses. Es dürfte aber nur eine Frage der Zeit sein, bis die ersten Satelliten-Hacker auch in diesem Käse auf Löcher stoßen.

Micky Remann

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