: Ein Testfall für Glasnost
Josef Stalin persönlich gab den Befehl, und er wurde befolgt: Als 1948 ein Erdbeben Ashkabad, Hauptstadt der Sowjetrepublik Turkmenistan, dem Erdbeben gleichmachte, durften die rund 20.000 Überlebenden die Stadt, in der zuvor 132.000 Menschen gelebt hatten, nicht verlassen, selbst in Briefen durfte niemand das Unglück erwähnen. Erst nach Stalins Tod 1953 sickerten Informationen allmählich an die Öffentlichkeit, und ausführlich beschrieben wurde die Geschichte des Erdbebens erst im vergangenen Jahr, von der Zeitung 'Sowjeskaja Kultura‘. Sie enthüllte auch, daß immer noch 18.000 Menschen in Behelfsunterkünften lebten - ganze vierzig Jahre danach.
Als 1966 ein Beben das Zentrum der usbekischen Stadt Taschkent zerstörte, da meldete die Presse am nächsten Tag immerhin die nackten Tatsachen. Ausführliche Berichte folgten aber erst Monate später, im Mittelpunkt stand längst der „sozialistische Wiederaufbau“. Noch Anfang der siebziger Jahre standen Erdbeben auf der Liste der „verbotenen Themen“. Alle Veröffentlichungen mußten erst von GAVLIT, der staatlichen Zensurstelle, abgesegnet werden.
In Armenien ging es in der vergangenen Woche erheblich schneller - wenn auch immer noch mit staatlich eingebauter Verzögerung. In den ersten Meldungen drückte sich die sowjetische Nachrichtenagentur 'Tass‘ am Mittwoch noch vor Schätzungen über das Ausmaß des Unglücks. Am Abend waren dann in der Fernsehsendung „Vremya“ schon Fotos eingestürzter Gebäude zu sehen. 24 Stunden später, am Donnerstag abend, wurde bekanntgegeben, zwei Drittel der Stadt Leninakan ständen in Ruinen und man rechne mit Zehntausenden von Toten.
Am Freitag erschien - in der 'Komsomolskaja Prawda‘ - die erste kritische Frage: Waren die eingestürzten Wohnhäuser vielleicht zu schlecht gebaut? Tags darauf kritisierte die Regierungszeitung 'Iswestija‘ insgesamt schon die schlechte Organisation der Rettungsarbeiten und wollte wissen, warum die Sowjetunion keine speziellen Rettungsteams besitze solche wie sie Frankreich gerade nach Armenien geschickt hatte. Von Tag zu Tag wurde die Fernsehberichterstattung aus dem Erdbebengebiet ausführlicher, Interviews mit fassungslosen überlebenden liefen genauso über die Sender wie der Ruf der Helfer vor Ort nach besserer Ausrüstung. Hatten die sowjetischen Behörden nach dem Erdbeben 1966 immer wieder betont, man könne sich ganz gut selber helfen, so wurde dieses Mal die ausländische Hilfe aus mehr als 60 Ländern nicht nur nicht verschwiegen, sondern dankbar hervorgehoben. Sonntag abend zeigte das Fernsehen sogar einen Filmbericht aus Israel - ein Staat, mit dem nicht einmal diplomatische Beziehungen bestehen -, wo sich gerade ein Rettungsteam mit Spürhunden zum Abflug nach Armenien bereitmachte.
Vier Tage lang mußte sich allerdings die internationale Presse mit den Berichten ihrer sowjetischen Kollegen zufriedengeben. Erst am Sonntag durfte eine Gruppe von westlichen 15 Fernseh- und Agenturjournalisten selber nach Armenien. Zunächst hatte das Außenministerium argumentiert, die Anwesenheit zu vieler Journalisten könnte die Rettungsarbeiten behindern.
Wichtiger scheint allerdings ein anderer Grund: Die sowjetischen Medien bemühen sich mit ihrer Berichterstattung offensichtlich, dem Nationalismus von Aserbeidjanern und Armerniern entgegenzutreten. Und so werden lieber die Kondolenzmeldungen aus anderen Sowjetrepubliken und die Zahl der aus Aserbeidjan entsandten Helfer verlesen, als über den anhaltenden Flüchtlingsstrom der armenischen Minderheit im moslemischen Aserbeidjan zu berichten. Was aus Baku nach Moskau geflüchtete Armenier erzählen, steht nicht in den Zeitungen: Daß dort nicht wenig in Jubel ausgebrochen seien, als sie von dem Erdbeben in der Nachbarrepublik erfuhren.
Scott Shane (wps), Moskau
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