: Einst und jetzt, statt hier und jetzt
■ Über „Wolfsmilch“ von Hector Babenco
Pixote, Hector Babencos erster Film, ist mir noch präsent. Pixote ist einer von Millionen, ein Straßenjunge aus Rio, zwölf Jahre alt. Seine Stationen sind: Erziehungsanstalt, Drogen, Prostitution, Tod auf der Müllhalde. Einer der härtesten Filme, die ich kenne. Rasende Angst, Gewalt, Sehnsucht nach der Mutter. Babenco konstatiert das. Pixote ist wie ein Dokumentarfilm über Pixote, dessen Weg der Regisseur verfolgt, ohne je einzugreifen, aber so, als könnte er es, als könnte er Pixote das Leben retten, und läßt es, weil es den naturgesetzlichen Gang der Dinge verfälschen würde. Das nenne ich Engagement.
Pixote ist meines Wissens in Deutschland nie gelaufen, höchstens auf Festivals. Welcher deutsche Verleiher interessiert sich schon für einen obskuren brasilianischen Erstlingsfilm? In Hollywood dagegen hat man den Film bemerkt. Babenco durfte den Kuß der Spinnenfrau machen, der wiederum am stärksten war, als er das Studiogefängnis verließ und ins wirkliche Rio de Janeiro ging - die Jagd der Todesschwadron auf den schwulen Bohemien, der sich im letzten Moment entschlossen hat, für eine politische Sache zu kämpfen.
Babenco hatte das Glück, daß der geniale William Hurt diesen Schwulen spielte. Vielleicht hält man ihn seitdem für einen Schauspieler-Regisseur, jedenfalls gab man ihm Meryl Streep, Jack Nicholson und Tom Waits, um William Kennedys Roman Ironweed zu verfilmen.
Das Hollywoodsystem hat Babenco entführt: aus dem Hier und Jetzt in die Fiktion. Der Film spielt 1938 in Albany, N.Y. Aufwendig und liebevoll wurden das Jahr und die Stadt rekonstruiert. Selbst die klammen Zeitungslagen, aus denen sich Clochard Nicholson anfangs schält, um kurzschrittig und vornübergebeugt ins nüchterne Wintermorgenlicht zu staken, sind von 1938. Alles für eine Geschichte, die ebensogut heute spielen könnte.
Streep und Nicholson also als Clochards. Der Alkohol, der Realitätsverlust und Zerfall. Beide hatten mal eine bessere Zeit. Er hatte Familie - Frau, Kinder, Haus, Hund -, sie war eine bekannte Cafehaus- und Radiosängerin. Beide sinken kurz vor Schluß noch einmal zurück in die Vergangenheit, inszenieren sie und sterben. Der Film braucht dafür über zwei Stunden.
Das ist zu kurz. Dem Zerfall fehlt die qualvoll lange Weile, die Auflösung ist kein Prozeß. Streep und Nicholson hätten das gekonnt: nichts tun, sich ganz zurücknehmen, vor der Kamera dahinsterben. Babenco hätte sich auf die Qualität des Dokumentarischen besinnen können. In Streeps und Nicholsons Gesichtern lesen und warten, bis bei den Zuschauern die Irritation eintritt - Streep und Nicholson: Clochards?
Aber die beiden bleiben Streep und Nicholson. Die ästhetische Transsubstantiation findet nicht statt. Sie spielen, sie über- und untertreiben nicht, also sind sie unrealistisch. Viel zu sehr gehorchen die beiden Figuren einem rationellen dramaturgischen Kalkül, als daß man ihnen ihre Gebrochenheit abnehmen könnte.
Das Kalkül heißt: einst und jetzt, statt hier und jetzt, Rückblende, durch die der Film seine unheilvolle Tendenz zur Entrückung ins Imperfekt der Fiktion noch verdoppelt.
Am deutlichsten wird das in der Cafehausszene. Streep singt. Man denkt: Oh, die ist ja wirklich toll, gerade, laute, ordinäre Stimme, eine wahre Edith Piaf. Dann kommt der Schnitt, und ihre Stimme ist brüchig und fahl, ihre Gesten sind fahrig und alkoholschwer. Das eine ist das Einst, das andere ist das Jetzt. Der Übergang fehlt, der Abglanz des einen im anderen. Nun kann man sagen: Das geht nicht, Kraft und Versagen, Anmut und Straucheln, Feuer und Asche zugleich, ein Unding. Das ist doch gerade die Kunst.
Thierry Chervel
Wolfsmilch von Hector Babenco. Nach dem Roman von William Kennedy. Mit Meryl Streep, Jack Nicholson, Tom Waits, USA 1988, 135 Min.
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