: Spitzelaktion: Stock im Nebel
■ Innenminister Josef Stock kann die Verantwortlichen nicht finden / Observierte Friedensbewegte wollen Auskunft über ihre Daten verlangen / Personenbezogene Datensammlungen widersprechen der informationellen Selbstbestimmung
Wesermarsch im Herbst 1983. Nachdem die Friedensbewegung mit der Bonner Massendemonstration ihren Höhepunkt überlatscht hat, knöpfen die quirligen Marschbewohner sich die alltäglichen Kriegsvorbereitungen vor. Sie haben herausgefunden, daß auf den Verkehrswegen längs der Unterweser der Nachschub für die US-Streitkräfte in Europa lauft: Cornflakes, Möbel und andere „zivile“ Güter auf der rechten, bremischen Seite des Stroms. Granaten, Raketen, Giftgas auf der linken Seite. Am 13. und 14. Oktober wird blockiert: die Zufahrt zum Mitgard-Hafen in Nordenham und die Carl-Schurz-Kaserne der US-Army in Bremerhaven. Der Widerstand ist ge
waltfrei. An der Aktion nehmen nicht nur Ortsansässige teil. Die Friedensinis haben über Rundschreiben bundesweit eingeladen. Auf der Weide der Bäuerin Gertrud Becker wird campiert.
Wenige Tage später bekommt die Kripoinspektion Delmenhorst eine Kopie des „Friedensrundbrief Nr. 7“ zugeschickt. Absender ist die Kripo-Leitstelle bei der Oldenburger Bezirksregierung. Der interne Rundbrief enthält Kontaktadressen der Inis. Die Friedensbewegten wollen so die Verbindungen untereinander stärken. Mit dem Adressenmaterial vervollständigen die Beamten ihre Dateien und legen für fünf Leute neue „kriminalpolizeiliche personenbezogene Sammlun
gen“ (KPS) an. Hinter den Namen Gertrud Becker setzen sie ein Kreuz und die Nummer 823. Ein Hinweis auf eine schon bestehede Sammlung persönlicher Daten? Die 66jährige Bäuerin zuckt mit den Schultern. Daß sie bespitzelt wird, überrascht sie nicht. Seit 1972 ist sie in der Umwelt- und Friedensbewegung aktiv und in ihrer Heimatstadt Nordenham dafür stadtbekannt. Damals waren ihr die Kühe auf der Weide verendet. Der Bleiausstoß der Nordenhamer Preußag-Hütte hatte sie vergiftet.
Wer die Bespitzelung der Friedensinitiativen angeordnet hat - Niedersachsens Innenminister Josef Stock weiß es noch immer nicht. Das, obwohl Arbeitsgrup
pen bei der Bezirksregierung Weser-Ems und im Landeskriminalamt die eigenen Missetaten aufklären. Stock: „Wir drücken aufs Tempo“. Er wußte in dem Buten & Binnen -Interview am Freitag auch nicht, von wem und aus welchen Gründen ein Teil der KPS wieder gelöscht worden sind. Aber eins wußte er genau: Disziplinarverfahren gegen Polizeibeamte wird es nicht geben. Stock: „Das ist ja alles verjährt“.
Nun ist Verjährung im Disziplinarrecht nicht vorgesehen. Schwant dem Minister Böses? KPS-Karteien über unbescholtene Bürger anzulegen, das könne man auch als „Verfolgung Unschuldiger“ werten, also als Straftat, meint der grüne Land
tagsabgeordnete Jürgen Trittin. So eine Straftat kann verjähren, aber erst im kommenden Herbst.
KPS. Die schlichte Karteikarte mit dem langen Namen ist für den suchenden Kripomann ein Wegweiser zu den verschiedenen Fundstellen, an denen er was über den Verdächtigen erfahren kann. Hier nur eine Auswahl: Hinweise von V-Leuten der Kripo, Durchsuchungsprotokolle, Gerichtsverfahren, auch solche, die mit Freisprüchen endeten, Fahrverbote, Hinweise auf Suchtkrankheiten und psychische Störungen. Lückenlose Personenprofile sind also möglich. Die Richtlinien des Bundesinnenministeriums über die KPS liegen in der rechtsstaatlichen Grauzone. Zumindest wi
dersprechen sie, das ist allgemeine Juristenmeinung, dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983, das die „informationelle Selbstbestimmung“ neu faßte.
Innenminister Josef Stock ficht's nicht an. Was er seinen Beamten ankreidet, ist allein: Sie haben diese Richtlinie nicht korrekt angewendet.
Die fünf Friedensbewegten, deren Observation jetzt bekanntgeworden ist, wollen auf dem Rechtswege verlangen, daß ihnen Auskunft über die gesammelten Daten erteilt wird. Eines ist ihnen jetzt schon sicher: Die ministerielle Enschuldigung. Die will Stock ihnen schicken, „wenn der Vorgang geprüft ist“.
mw
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