: Bericht eines Taubstummen
■ Claude Simons „Die Einladung“
Für den Herbst 1986 waren auf Anordnung oder vielleicht nur auf Wunsch Gorbatschows fünfzehn Nobelpreisträger und andere internationale Berühmtheiten in die Sowjetunion eingeladen worden, um miteinander und mit den gastgebenden Kulturbehörden in einen Dialog zu treten. „Die Verwirklichung der Menschheitsideale im dritten Jahrtausend“ stand dabei zur Diskussion.
Claude Simon (Literaturnobelpreis, 1985) befand sich unter den Gästen und hat nun in seinem Buch Die Einladung das Ereignis beschrieben. Allerdings: Statt über Debatten, Meinungsverschiedenheiten oder Resolutionen zu berichten, bleibt Simons Sprache weitgehend visuell orientiert; sie entfaltet eine Art literarischen Stummfilm und dementiert die Parolen durch die Bewegungen und Ereignisse, die sie umgeben: Während der Bürgermeister einer Millionenstadt eine proletarische Tischrede zu halten scheint, schweift der Blick ab auf Porzellanteller und die darauf abgebildeten Amouretten und Libellen. Statt die Gespräche wiederzugeben, bringt Simon die Randereignisse zum Sprechen: den wachhabenden Offizier (der erschrocken das Licht löscht, als wäre er bei einem gravierenden Verstoß gegen die Disziplin ertappt worden), die Dolmetscherin (die das Pathos jeder Rede auf einen kraftlosen Einheitston nivelliert) und immer wieder die offiziellen Begleiter mit ihrer Mischung aus klebriger Fürsorge und listiger Kontrolle.
Simons Sprache verweigert sich dem Politischen, oder genauer: Sie sucht es dort, wo es sich unbeobachtet glaubt. Sie beschreibt Gorbatschows Rede, als hätte ein technischer Defekt Sprecher und Zuhörer getrennt: Was bleibt, sind Gorbatschows Gesten, das Ausweichen seiner Augen, die unmerklichen Fingerzeige an das Heer der Begleiter und Kellner. Simon betreibt - in verbaler Sprache vorgetragen die Abkehr von verbaler Sprache. Und das alles in endlosen Bandwurmsätzen voller Relativsätze und Einschüben, die, ohne ein einziges Mal „wir“ oder „ich“ zu sagen, in Nebensätzen (!) Szenen streifen wie die folgende: eine Wartehalle eines Flughafens, fünf sowjetische „Betreuer“, fünfzehn Dolmetscher und ebenso viele Gäste, darunter zwei Schwarze:
“...diesmal also in tiefen Sesseln, immer noch überwacht (oder assistiert) von ihren Begleitern, die sich gerade um den scharten, der ihr Chef zu sein schien, und von einer ihrer endlosen, geflüsterten Beratungen in Anspruch genommen wurden, wobei sie sich jedesmal unterbrachen, verstummten, wenn der eine der beiden Schwarzen sich erhob und die riesige Halle in ganzer Länge mit seinen tänzelnden Schritten durchquerte, sich in den Hüften wiegte und graziös sein Handgelenk, um das er einen Seidenschal gebunden hatte, wippen ließ, indem er sich mit seiner blauen Zunge über die Lippe fuhr, dann für kurze Zeit verschwand, wieder auftauchte und abermals auf dem Sofa Platz nahm, (...) worauf (...) der Chef des Begleitpersonals seine Fassung wiedergewann und die zwanzig Augenpaare sich wieder auf ihn richteten...“
Simon bettet das gesamte Buch in einen chaotischen und dennoch ereignislosen, also einförmigen Sog von vielleicht 20 oder 40 Sätzen, die, gänzlich atemlos und ohne Kontur, vorüberrauschen und dabei trotzdem einen Eindruck hinterlassen: den einer zugleich undurchschaubaren Verschlungenheit und gegenseitigen Distanz aller Ereignisse. In ihrer Teilnahmslosigkeit und ihrer Abwendung vom Gespräch erinnert diese Sprache an das Selbstgespräch des Taubstummen - und in ihrer Ohnmacht: Wie der Stumme kann sich der Autor nicht zum Widerstand entschließen, denn er glaubt zu wissen, daß der andere ihn nie verstehen wird. Haben diese fünfzehn prominenten Männer tatsächlich alles über sich ergehen lassen? Hat denn keiner ein einziges Mal „Nein“ gesagt? Man weiß nur, daß sie Hände geschüttelt und Friedensbäume gepflanzt haben. Sie scheinen tatsächlich ein Haufen gehorsamer Hündchen gewesen zu sein. Aber darin liegt bekanntlich die Rache des Poeten: Er wehrt sich selten vor Ort, aber er liebt es, seinem Täter - Jahre später - die Rechnung in Buchform zu präsentieren.
Martin Groß
Claude Simon, Die Einladung. Aus dem Französischen von Christine Stemmermann. Rowohlt, 77 Seiten, 19.80 Mark
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