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Vom Nachttisch geräumt: ELOESSER

Arthur Eloesser (1870-1938) war einer der bekanntesten Berliner Theaterkritiker, Mitarbeiter der 'Vossischen Zeitung‘ und der 'Weltbühne‘. Jetzt ist eine Sammlung seiner Berlin-Feuilletons „Die Straße meiner Jugend“, 1919 das erste Mal erschienen, wieder aufgelegt worden. Ein Buch von Häusern und Menschen. Kleinste Beobachtungen werden Belege fürs Allgemeinste. Anders als der gesunde Menschenverstand meint - Du darfst nicht verallgemeinern - ist dieses Verfahren ja nicht nur falsch. Da es das Allgemeine immer nur in den vielen Besonderen gibt, kommt man anders gar nicht an es heran. Eloesser macht das so: „Das wenige, was wir als Flußlandschaft so mit Stimmung und Aufforderung an moderne Maler ausgeben können, wird nicht von der Original -Spree geliefert, sondern von unserem Landwehrkanal, also einem Gebilde aus Menschenhand. Die Natur hat dem Berliner nichts geschenkt; er mußte auch das in die Hand nehmen.“ Inzwischen gilt letzteres für uns alle. Bei Strafe des Untergangs. Eloessers Skizzen handeln von uns. Der zeitliche Abstand betrifft nur die Dekoration. Kutschen statt Autos und ähnliche Äußerlichkeiten. Aber hat unsere Jungenhorde ihr Trümmergrundstück nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ebenso energisch verteidigt wie Eloessers Altersgenossen ihre Straße gegen die Jungen aus der Nachbarstraße? George Grosz‘ fette Kapitalisten, seine aufgedunsenen Spekulationsmilliardäre, was haben sie mit den alerten, stets gebräunten Herren aus den heutigen Chefetagen zu tun? Eloesser schrieb 1908 - also fünfzehn Jahre vor Grosz - in „Der Dicke“: „Früher trat der reiche Mann auch als dicker Mann auf; das gehörte zu seiner Repräsentation. Er war eben derjenige, der am bequemsten lebte, der am meisten zu essen und zu trinken hatte, der sein Kapital sichtbar und imposant im Bauch investierte. Heute ist das Kapital unpersönlich geworden, gerade der Kapitalismus hat diesem Typus des Reichen ein Ende gemacht. Niemand wird sich einen amerikanischen Milliardär, einen deutschen Großindustriellen als gepflegten Schmerbau vorstellen, vielmehr in einer nervösen schlanken Konstitution, die sich intensiver Kopfarbeit nicht mit dem Ballast des Fleisches widersetzt. Die Karikatur auf John Bull hat längst keinen Sinn mehr, sie hat die Wirklichkeit um mehr als hundert Jahre überlebt. Man schätzt das soziale Ansehen nicht mehr nach den Beefsteaks, die einer im Leibe hat, seitdem die reichen Leute Salatesser geworden sind. Bei uns sorgte das Bier für die Differenzierung der Dimensionen; die Anschwemmung des Bierbauches ist immer noch eine nationale Deformation, die wir hoffentlich bald für unanständig halten werden. In dem so stark demokratisierten und so viel beweglicher gewordenen öffentlichen Leben fängt der Dicke schon an, unbequem zu werden. Wer setzt sich in der Eisenbahn oder im Omnibus gern neben einen dampfenden Koloß? Man will seine übergebührlichen Ansprüche an Raum und Atmosphäre nicht mehr anerkennen, man verwirft sie in sozialer und ästhetischer Opposition.“ Hätte jemand geschrieben, demokratische Gesellschaften wären gegen die Dicken, wir hätten ein Hohngelächter angestimmt. Aber Eloesser hat mit seiner kleinen Beobachtung in der Eisenbahn diese Auffassung plausibel, ja evident gemacht. Jetzt hungert man geradezu nach einer Kulturgeschichte des Dicken. Mein Titelvorschlag: „Mit dem Kapital durch dick und dünn.“

Die Ausgabe unterscheidet sich von der von 1919. Eine Nachbemerkung mit Angaben zum Autor ist hinzugekommen. Ihr entnehme ich eine andere Differenz zur Erstausgabe. Die letzte Skizze wurde den Lesern der Neuausgabe vorenthalten. Es handelt sich - so der Herausgeber - um „harmlos -verharmlosende Genrebildchen im Stil von 'Vatting im Kriege'“. Der Herausgeber beruft sich auf Tucholsky, der das Schlußkapitel ganz und gar nicht mochte. Eloesser, denke ich, hat es aber nicht verdient, geschönt, politisch bereinigt, neu aufgelegt zu werden. Seine Berliner Skizzen gehören zum Klügsten, was das deutsche Feuilleton produziert hat. Er braucht den Vergleich mit Heine und Börne nicht zu scheuen. Bei soviel Glanz sollte man den Schatten nicht verdrängen.

Arthur Eloesser, Die Straße meiner Jugend - Berliner Skizzen, Das Arsenal, 124 Seiten mit 20 s/w Fotos, 16,80 DM

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