piwik no script img

„Es wird eine neue Version der Geschichte geben“

■ Sjewa Wolkow Bronstein, der Enkel Leo Trotzkis (Leo Dawidowitsch Bronstein), lebt heut als Chemiker in Mexiko-Stadt Er ist einer der wenigen aus der Familie des russischen Revolutionärs, die der Verfolgung durch Stalins Schergen entkommen sind

taz: Was wurde bisher für die Rehabilitierung Trotzkis in der Sowjetunion unternommen?

Sjewa Wolkow Bronstein: Wir fordern eine offizielle strafrechtliche Freisprechung Trotzkis von den „Verbrechen“, die ihm die stalinistische Geschichtsschreibung unterstellt hat. Das ist ein äußerst wichtiger Schritt für die Wiederherstellung der historischen Wahrheit. Wir fordern weiter, daß alle Werke Trotzkis in der Sowjetunion veröffentlicht und frei diskutiert werden können.

Welches sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür, daß die Rehabilitierung Trotzkis in der Sowjetunion nur sehr zögernd vorangeht im Unterschied zu anderen Fällen?

Man muß bedenken, daß Trotzki der unerbittlichste Kritiker und Widersacher der russischen Bürokratie, der stalinistischen Bürokratie war. Und viele Regierungsfunktionäre sind noch heute stark im Stalinismus verwurzelt. Denken wir nur an die Kreise um Ligatschow. Und Trotzki war über Jahrzehnte ihr Todfeind.

Liegt nicht einer der Gründe darin, daß die historische Rehabilitierung Trotzkis auch die Rolle und Person Lenins berühren würde? Zwischen Trotzki und Lenin gab es ja einige Meinungsverschiedenheiten.

Die Divergenzen wurden immer stark übertrieben dargestellt. Zur Zeit der bolschewistischen Revolution waren Meinungsverschiedenheiten das tägliche Brot der Revolutionäre, das war der Reichtum, die Vitalität der bolschewistischen Partei, der Kampf der Ideen. Die Geltung einer einzigen Idee und einer absoluten Disziplin, das waren später die Merkmale der Stalin-Ära. Was das Verhältnis zwischen Lenin und Trotzki betrifft, so war dies zur Zeit der Revolution von größerer Übereinstimmung und Gemeinsamkeit in den täglichen Fragen bestimmt als in den vorrevolutionären Zeiten. Konflikte hatte es sehr viel früher gegeben, als Trotzki noch sozialdemokratischen Positionen nahestand.

Zur Zeit passiert in Sachen Geschichtsrevision eine Menge in der Sowjetunion...

Das ist richtig, aber bisher sind es nur wenige aus den oberen Funktionärsetagen, die was zu sagen haben. Es wird eine neue Version der Geschichte geben, aber möglicherweise wird das wieder eine offizielle sein. Was weiterhin fehlt, ist Polemik und offene Diskussion.

Hat die sowjetische Regierung bisher auf Ihre Forderung reagiert?

Nein, aber man gab uns die Zusicherung in der sowjetischen Botschaft, daß wir eine Antwort bekämen, eine offizielle Antwort natürlich. Das Interview führten Gunther Aschemann und Reimar Paul

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen