: SPD: Machtfrage erst ab 38 Prozent
■ Aus den Umfrageergebnissen über die hohe Zahl von unentschlossenen Wählern zieht nur die AL Konsequenzen / SPD macht keine Koalitionsaussagen
Mehr als ein Drittel aller WählerInnen wissen drei Wochen vor der Wahl immer noch nicht, wen und ob sie wählen sollen. Das besagt eine Umfrage des Senats, die gestern in der 'BZ‘ veröffentlicht wurde. Auf gar 44 Prozent Unentschlossene kam in der letzten Woche das „Forsa„-Institut, das im Auftrag des 'stern‘ die Wählerstimmung untersucht hatte. Grund genug für die Parteien, sich um diese Abstinenten verstärkt zu bemühen, sollte man meinen, doch weit gefehlt.
Die einzigen, die versuchen, aus dieser Situation für sich Kapital zu schlagen und das Ruder der Stagnation herumzureißen, sind die Alternativen. Bei ihnen bekommen jetzt noch einmal diejenigen in der Partei Auftrieb, die schon im Dezember gerne öffentlich mit der SPD über eine Koalition diskutiert hätten. Die Perspektive eines möglichen Regierungsbündnisses von SPD und AL könnte viele WählerInnen aus ihrer Lethargie holen, meint AL-Pressesprecher Dirk Schneider. Man müsse die Haltung des „es ist eh schon alles gelaufen, warum soll ich noch zur Wahl gehen“ durchbrechen. Die AL liegt nach den bislang veröffentlichten Umfrageergebnissen bei 10 Prozent. 1985 entschieden sich noch 10,6 Preozent für die Alternativen.
Die Sozialdemokraten allerdings wollen von Koalitionsüberlegungen gar nichts wissen. Sie stellen sogar die Annahme der AL, ein rot-grünes Koalitionsangebot an die WählerInnen könne mobilisierend und motivierend wirken, in Frage. Die SPD will sich nach allen Seiten offen halten und lockt an allen Fronten. Hauptsächlich aber versuchen die Sozialdemokraten, ihre Stimmen, die sie an die CDU verloren haben, zurückzugewinnen. Auf diese Wähler zielt der Satz von der „starken Opposition“. Es gibt viele, so SPD -Wahlkampfleiter Nagel, die wollen nicht mehr die CDU wählen, aber noch nicht wieder die SPD. Die Frage der Regierung stelle sich für die SPD frühestens bei einem Wahlergebnis von 38 Prozent. Vorher sehe er keine Legitimation, die Machtfrage zu stellen.
Mit anderen Worten: Für die SPD käme eine Koalition nur mit einem möglichst schwachen Bündnis-Partner in Frage. Dahinter steckt die Angst, es sich gründlich mit den Arbeitnehmer -Stammwählern zu verderben. Dafür nimmt die SPD in Kauf, daß sie für all diejenigen, die es mit der Ablösung des Diepgen -Senats ernst meinen, keine Alternative ist. Das Kopf-an -Kopf-Rennen, das der 'stern‘ mit 49 (CDU/FDP) zu 48 (SPD/AL) Prozent vorhersagt, wird es mit dieser SPD, der der Wille zur Macht fehlt, nicht geben.
Den regierenden Parteien kann diese bornierte Festlegung der Sozialdemokraten auf ihre Oppositionsrolle nur recht sein. Sie zeigen sich ohnehin relativ unbeeindruckt von den Wahlumfragen und tun die hohe Zahl der Unentschlossenen mit einem lakonischen „normal“ ab. FDP-Wahlkampfleiter Tiedt: „Das Wahlkampffieber hat noch nicht um sich gegriffen.“ Doch dieses Fieber wird wohl, so es überhaupt auftaucht, ein Schüttelfrost werden. Die FDP, ohnehin zu „leisen Tönen“ verurteilt, wäre mit den 6 Prozent der letzten Wahl schon zufrieden. Die CDU ist auf ein knappes Ergebnis eingestellt. Daß ihnen die Republiker ihren rechten Rand anknabbern und enttäuschte Nichtwähler anziehen könnten, will Generalsekretär Landowsky nicht sehen. Die Bedeutung der Republikaner sei nach Beobachtungen der CDU „marginal“. Nicht so sieht - oder wünscht - das die AL. Hinter vorgehaltener Hand und mit schlechtem Gewissen wünscht so mancher den Rechtsextremen Stimmen von der CDU. Der AL könne nichts Besseres passieren als eine zerstrittene Rechte, heißt es in der Badenschen Straße.
Eine Wahlbeteiligung aber, die noch unter die 83,6 Prozent von 1985 fallen sollte, wird allen Parteien zu denken geben müssen. Das Stichwort „Politikmüdigkeit“ steht eben nicht nur für den Überdruß der WählerInnen, es steht hauptsächlich für die Unfähigkeit der Parteien, im politischen Streit Profil zu zeigen.
bf
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