„Wir bleiben auf den Barrikaden“

■ Über die Autobiographie der Biologin und Aids-Forscherin, Resistancekämpferin und Jüdin Lilli Segal

Am 1.April 1933 geht der Berliner Arzt Dr. Arthur Schlesinger wie immer in seine Praxis. Um halb acht bringt ihm sein Chauffeur die Morgenzeitung. Die Titel-Schlagzeile: „Wachen vor allen jüdischen Betrieben“. Wenig später findet man Dr. Schlesinger tot auf. Der hochdekorierte Offizier des Ersten Weltkriegs hat sich eine Überdosis Morphium gespritzt.

Elf Jahre später wird Lilli Segal, geborene Schlesinger, in Paris beim Verhör durch die Gestapo gefragt, warum sich ihr Vater umgebracht habe, „als es noch gar nicht so schlimm für die Juden gewesen sei“. Man brauche ja nicht das Schlimmste abzuwarten und könne vorher die Konsequenzen ziehen, antwortet die 31jährige. Sie ist seit langem in Haft, durch Hunger und Mißhandlungen geschwächt - und beginnt, mit den Nazi-Schergen über die Judenfrage zu diskutieren.

Das ist Lilli Segal, wie man sie noch heute, mit 75, erlebt: unerschrocken, spontan, ehrlich, streitfreudig, von scheinbar unerschöpflicher Energie. Lilli Segal, Ostberliner Biologin und Dokumentaristin, bei uns bekannt, ja fast „berüchtigt“ durch die gemeinsam mit ihrem Mann Jakob aufgestellte und hartnäckig verfochtene These, daß Aids aus einem amerikanischen Militärlabor stamme. Ihr Leben, ihre Arbeit, ihre Persönlichkeit hätten indes aus ganz anderen Gründen Beachtung verdient: Sie war Miglied der Resistance in Paris. In Wort und Schrift ist sie bis heute unerbittliche Kritikerin der massiven Beteiligung von Medizinern an den Verbrechen des Nationalsozialismus. 1944 wurde sie als Jüdin nach Auschwitz deportiert.

Einen großen Teil ihres Lebens schildert sie in ihrer Autobiographie Vom Widerspruch zum Widerstand Erinnerungen einer Tochter aus gutem Hause, die bisher leider nur im Aufbau-Verlag erschienen und dort bereits vergriffen ist. Der Freiburger Verlag Kore, bei dem das Buch Ach, wär's doch nur ein böser Traum. Frauen und Aids (herausgegeben von Melitta Walter) mit einem Beitrag von Lilli Segal erschien, sollte sein bekundetes Interesse bald in eine westdeutsche Ausgabe umsetzen!

Lilli Segals Lebensbeschreibung wirkt direkt, impulsiv, unsentimental und selbstkritisch. Es habe ihr an Urteilskraft und Vorsicht gefehlt, meint sie heute, im Vergleich zu ihrer engsten politischen Kampfgefährtin und Leidensgenossin Anni Sussmann. „Während ich mich selbst noch in Auschwitz von meinem Temperament und meinen Gefühlen leiten ließ, analysierte sie die Situation mit scharfem kritischem Blick.“

Nach dem Begräbnis des Vaters 1933, für Lilli der endgültige Abschied von Jugend, Familie und Heimat, wird ihr Leben lange Jahre beherrscht von Widerstand, Krieg, Gefängnis und Konzentrationslager. Im französischen Toulouse, wo sie im November 1933 Landwirtschaft zu studieren beginnt, lernt sie Jakob Segal kennen, der in Deutschland aufgewachsen ist, aber aus einer litauischen Familie stammt. Sie, die sich bisher zum Ärger ihrer Familie innerlich und äußerlich weitgehend der traditionellen Frauenrolle verweigert hat, verliebt sich in den russisch -jüdischen Studenten der Fischereibiologie, der ihr „wie aus einem Film entstiegen“ vorkommt. Ihre Beziehung ist von einem ungeheuer lebhaften geistigen Austausch geprägt - der bis heute anhält. Durch „Jascha“ kommt die schon immer politisch engagierte und oppositionelle „höhere Tochter“ erst recht in Kontakt mit dem Kommunismus und dem Widerstand gegen den Faschismus.

Die beiden heiraten 1935 und gehen nach Paris. Mehrfach unternehmen sie für ihre Widerstandsarbeit Reisen ins faschistische Deutschland, was durch Lillis nunmehr litauischen Paß erleichtert wird. Am 12.Juni 1940 verlassen die Segals auf Rädern die französische Hauptstadt - zusammen mit acht Millionen Zivilisten und Soldaten flüchten sie vor den Deutschen. Ihre gefahrvolle „Tour de France“ dauert bis Oktober. Dann gelingt es ihnen, ins besetzte Paris zurückzukehren. Sie wollen nach Litauen, was sich als fast unmöglich erweist. Im Juli 1941 wird Sohn Andre geboren. Jakob muß untertauchen, weil seine jüdische Identität sich nicht länger vertuschen läßt. Lilli hält die Kontakte zu den Genossen und kann im Frühjahr 1942 in das Übersetzungsbüro eintreten, in dem ihr Mann unter falschem Namen arbeitet.

„Eigentlich sollten meine Erinnerungen an die Jahre 1942 und '43 ernst und traurig sein“, schreibt Lilli Segal, „ich muß aber gestehen, dies ist nicht der Fall. Schon deshalb nicht, weil wir aktiv waren und beschäftigt und keine Zeit fanden, um zu resignieren. Sicher auch, weil wir im Gegensatz zu fast allen anderen beisammen waren und alles miteinander besprechen konnten.“ Für Lilli Segal beginnt der Leidensweg mit der Trennung von ihrer Familie. Am 21.November 1943 wird sie, kurz nachdem ihr Mann das Übersetzungsbüro zufällig verlassen hat, dort verhaftet. Im Juni 1944 kommt sie ins Lager Drancy, von wo aus seit Ende 1941 mehr als 80.000 Juden deportiert worden sind, darunter die meisten Mitglieder ihrer Widerstandsgruppe.

Was sie in Auschwitz erlebt und erlitten hat, damit setzt sie sich bis heute auseinander. Auch in ihrem eigenen Lande gibt es nur eine begrenzte Bereitschaft, das Thema „Medizin im Nationalsozialismus“ ehrlich behandelt zu sehen. Sie hat ein Buch über die „Hohepriester der Vernichtung“ geschrieben. Sie selbst ist ihnen im letzten Moment entronnen. Als Lilli zusammen mit 70 Französinnen, darunter ihre Kameradin Anni, in ein Arbeitslager am Rande des Zittauer Gebirges verlegt wird, denkt sie nur noch an Flucht. Den beiden Frauen ist klar, daß sie den Winter im Lager nicht überleben werden. Das kaum Vorstellbare gelingt: Sie können auf dem Weg zum Arbeitseinsatz fliehen. Und obwohl der Pfarrer, bei dem sie Hilfe suchen, sie vor die Tür weist und ihnen die Nazi-Meute mit Hunden auf den Hals hetzt, kommen sie davon. Nach einem Mammutweg quer durch Deutschland bis in die Schweiz kehren sie noch vor Mai 1945 nach Paris zurück. Lilli findet ihr Kind und ihren Mann wieder, der sich die ganze Zeit versteckt halten konnte. Im Dezember 1945 bringt sie ihren zweiten Sohn Michael zur Welt.

1952 geht die Familie Segal in die Hauptstadt der DDR. Jakob Segal gründet das Institut für Allgemeine Biologie an der Humboldt-Universität und organisiert den ersten Unterricht in Strahlenbiologie und Biophysik. Lilli, die unbedingt weiter mit ihm zusammenarbeiten möchte, promoviert in Biologie und wird Assistentin an seinem Institut. Später macht sie noch eine Ausbildung als Dokumentaristin. Auf langen Auslandsaufenthalten in Kuba und Mexiko erwirbt sie Spezialkenntnisse in Immunbiologie.

Beides kommt ihr zustatten, als ihr Mann und sie sich nach dem Abschied vom Universitätsdienst der Aids-Problematik widmen. 1987 hat ihre umstrittene These, daß HIV ein durch Gentechnologie konstruiertes Kunstprodukt aus dem US -Militärlabor Fort Detrick sei, eine Diskussion um die Entstehung dieses Erregers in Gang gesetzt. In einem Film von Malte Rauch und Heimo Clasen, der zur Zeit in den dritten Fernsehprogrammen gezeigt wird, kommen Segals erstmals nach dem taz-Interview durch Stefan Heym zu Wort. Trotz vielfacher Kritik an ihrer These machen Segals weiter, trägt vor allem Lilli, die Dokumentaristin, unermüdlich Fakten zusammen. Mit sichtlichem Vergnügen erzählt sie, daß die 'Frankfurter Rundschau‘ sie beide als „Sherlock Holmes der Biologie und seine Miss Marple“ bezeichnet habe. An Energie, Ausdauer, Findigkeit und Humor steht sie der britischen Amateurdetektivin wirklich in nichts nach.

Inzwischen arbeiten beide Segals in einer neuen Forschungsstelle beim DDR-Gesundheitsministerium mit, wo grundlegende Aids-Forschung betrieben wird. Es gibt Interesse zur Zusammenarbeit von seiten verschiedener westliche Labors, auch von Wissenschaftlern am Westberliner Robert Koch-Institut, wo Professor Meinrad Koch, einer ihrer heftigsten Gegner, sitzt. Ein Beweis in den Augen von Lilli Segal, daß ihre „Partisanenmethoden“ im festgefügten Gebälk des etablierten Wissenschaftsbetriebes doch nicht ganz ohne Wirkung sind. „Wir bleiben auf den Barrikaden“, sagt sie mit Nachdruck, „bis zuletzt.“

Charlotte Böhm