Sechs Tage und kein Rennen

■ Von Gleitmitteln, Didis Pudelmütze und Holstens ambientaler Small-Talk-Strategie: Ernüchternde Beobachtungen vom Morgen dazwischen

Montag morgen um elf ist die Welt wieder in Ordnung. Vertrieben sind Bierdunst und Weinseligkeit, die ewig kreisenden Augen sind zur Ruhe gekommen, die Stadthalle läuft sich warm für den Countdown zur vorletzten Nacht des Sechs-Tage-Rennens. Es ist die große Stunde der Entsorger, Shampoonierer und Desinfizierer, der Zwiebelschäler, Fahrradflicker und Wasserträger. Oben im Innenraum trudeln die

ersten Mechaniker ein, zentrieren Speichen und wechseln Sättel, weil die alten an den Stellen, wo Männer nun mal empfindlich sind, den Dienst verweigern.

Halb zwölf. Roman Herrmann und Didi Thurau kommen aus dem Parkhotel geschlurft. In dicke Mäntel gehüllt, die Pudelmützen tief im Gesicht nutzen sie den kurzen Spaziergang, um dem Kreislauf eine kleine Chance zu geben, sich zwischen Aufputsch-und Schlafmitteln neu zu verorten. Ihr erster Weg in der Halle führt sie zum Masseur. Der ist einer von dreißig Männern Bodenpersonal im Sechs-Tage-Troß. Ein Blick in seine acht Quadratmeter Neon-Kombüse, die für sechs und mehr lange Tage und Nächte zugleich Lebens-und Arbeitsraum ist, offenbart das Leben aus dem Koffer. Halbentleerte Taschen, Devotionalien aus der Welt der Six -Days, die Schmutzwäsche von vorgestern zwischen Kaffeetasse und Massageöl. Auf dem Fenstersims mehr als nur ein Kofferradio. Indiz dafür, daß hier Fahrer ihre Prämien zwischenlagern. Nebenan haben die Mechaniker ihr Quartier aufgeschlagen. Ein großer, karger Raum, Feldbetten und Wolldecken, die wenigen Utensilien auf blankem Betonfußboden versam

melt - das ist der triste Alltag, den die glitzernde Welt des Radrenn-Business produziert.

Zwölf Uhr. Im Innenraum kehrt Leben ein. Heute nachmittag ist Kinderprogramm. Denn vorbei sind die legendären Zeiten, als die Fahrer tatsächlich 24 Stunden auf der Bahn waren, sich beim Fahren in Trance strampelten und bei der Ablösung ohne Umwege in die Koje fielen. Übriggeblieben sind die langen Nächte und ein Hauch jener Campingplatzatmosphäre, die einmal den typischen Sechs-Tage-Stallgeruch ausmachte. Auf der Bühne unter der Bühne versteckt gibt es sie noch, die Tageslager der Fahrer. Auf sechzig mal einsachtzig häuft sich rund um die Matratze, all das liebgewonnene Hab und Gut .Über der Bettstelle die Wäscheleine und das Apothekensammelsurium. Farial und Nesivine Nasenspray haben neben Cotrane und Neo-Golaseptive ebenso ihren festen Platz wie Alka-Selzer und die einschlägigen Gleitmittel. Spind und Spiegel sind bei der Bahnhofsmission entwendet, das restliche Inventar beim Ramschverkauf erstanden. Rund um diese liebevolle Idylle aber strotzen die Insignien des Mammons.

Halb eins. Beim Spaziergang mit Stadthallendirektor Seesing

durch sein Reich der Katakomben bleiben wir vor zwei Tresen hängen. Hier wetteifern die Brauereien Becks und Holsten nicht nur um die Gunst des trinkenden Publikums, hier auch wird sinnfällig, wie sich das Seesing-Konzept, „die Publikumszusammensetzung beim Sechs-Tage-Rennen langfristig zu verändern“, niederschlägt. Der nackte Plastiktresen bei Becks, die kahle Rückwand und der Abfall im Blickfeld des Zechers zielen auf ein Publikum, das längst der Vergangenheit angehört. Bei Holsten hat man die Zeichen der Zeit verstanden. Gediegenes Ambiente, getäfelter Tresen und verspiegelte Rückwand setzen auf diejenigen, die den Small -Talk mehr schätzen als das Ereignis. Ob Radrennen, Tennisturnier oder Theatergala - das Publikum ähnelt sich zunehmend. Aber auch das verriet der Herr Direktor Seesing: die Firma Becks war ob des offensichtlich verpatzten Marketingkonzeptes so erbost, daß sie ihn zum Rapport bestellen ließ. Die Anklage lautete auf grob fahrlässige Vernachlässigung der bremischen Wirtschaft.

Montag mittag, es ist ein Uhr. Die Welt der Stadthalle gerät wieder aus den Fugen.

Andreas Hoetzel