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Was der 'ND'-Leser von Perestroika wissen muß

■ 'Neues Deutschland‘ dokumentiert Gorbatschows Rede an die Kulturschaffenden / Im Ziel: DDR-Intelligenz

Auf drei Seiten Bleiwüste dokumentierte gestern das 'Neue Deutschland‘ die Rede Gorbatschows, die er am letzten Freitag auf einem Treffen mit sowjetischen Wissenschaftlern und „Kulturschaffenden“ gehalten hat. Es ist sicherlich der längste Beitrag zur Verteidigung der Perestroika, der je im 'Neuen Deutschland‘ zu lesen war. Absicht dieser Rede ist es, die wissenschaftliche und künstlerische Intelligenz in die Pflicht zu nehmen.

Der „'ND'-Leser kann der Rede Verschiedenes entnehmen. Die Probleme werden schonungslos benannt: erhöhte Produktivität und trotzdem „Schlangen“ und Warenknappheit; die ungelöste Frage der Preisbestimmung und die Gefahr des Sinkens des Lebensniveaus.

Als schlimmste Erbschaft der Vergangenheit wird das Haushaltsdefizit benannt sowie die Notwendigkeit weiterer Streichungen im Militärhaushalt und die Schließung unrentabler Betriebe definiert. In diesem Zusammenhang erklärt Gorbatschow unverhohlen, daß frühere Sowjetregierungen „die Dinge ... durch Verleitung des Volkes zum Trinken in Ordnung zu bringen“ versuchten.

Ein Tenor der Rede ist: 1988 sei das Jahr gewesen, in dem die Perestroika sich nicht nur in der „Breite“, sondern auch in der „Tiefe“ durchgesetzt habe. Spekulation auf „Manöver hinter den Kulissen“ des „Zentrums“ seien unsinnig; die Umgestaltung gehe ihren Gang. Es dürfe weder gebremst noch beschleunigt werden. Aber der Inhalt der Rede zeigt eine zentristische Position, bedroht von rechten und linken Feinden der Umgestaltung. Hier führt Gorbatschow einen ganzen Katalog von Unannehmbarkeiten auf, der durchaus eine Argumentationshilfe für die SED darstellen könnte. Zwar sei die „autoritär-bürokratische Entstellung des Sozialismus“ „unannehmbar„; aber er wendet sich gegen die Ansicht des „nicht stattgefundenen Sozialismus“.

Gerade in der „tiefgreifenden“ Etappe der Perestroika bedarf es der starken Partei“ und Versuche müssen abgewehrt werden, unter dem „Mantel der Offenheit“ die führende Rolle der KPdSU anzugreifen. „Sozialistischer Pluralismus“ wird gefordert und nicht das „Faustrecht in der Auseinandersetzung“. Real ist für Gorbatschow Glasnost ein Feld der „Sensationshascherei“ und „nicht stichhaltiger Folgerungen“. Deswegen scheint es ein überdeutlicher Wink, wenn er andeutet, daß ein künftiges Gesetz über die Massenmedien dies alles „aufnehmen“ müsse.

Für den verständigen Leser des 'Neuen Deutschland‘ ist der Text richtig eingebettet. Auf der einen Seite wird ein Briefwechsel Honeckers mit einem Arbeiter aus Magnitogorsk dokumentiert, in dem an Honeckers Aufbauarbeit von 1931 in dieser Stadt erinnert wird. Andererseits wird der Erste Sekretär des besonders parteitreuen Moskauer Stadtparteikomitees, Saikow, zitiert: mit fast identischen Worten kritisiert er die Medien - in den Publikationen gebe es zuviel „Marktschreierisches“. Nicht selten würden „Voreiligkeit“ und „Unbesonnenheit bei Schlußfolgerungen geduldet“. Kurzum, die Botschaft des 'Neuen Deutschland‘: die Intellektuellen der DDR sollen sich hüten, mit Glasnost zu argumentieren. Erstens ist die deutsch-sowjetische Freundschaft alt genug, zweitens geht es den Intellektuellen im Mutterland der Revolution an den Kragen, wenn sie nicht „sozialisitschen Pluralismus“ praktizieren.

Klaus Hartung

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