: Mord oder Mitleid
Gestern begann in Wuppertal der Prozeß gegen die Krankenschwester Michaela Roeder / Sie soll 17 Menschen getötet haben / Staatsanwalt beanstandet „die nötige Distanz“ der psychologischen Gutachter zur Angeklagten ■ Aus Wuppertal Rita Schnell
Über 50 Journalisten und mindestens noch einmal so viele Fotografen machten den ersten Verhandlungstag im Prozeß gegen die Krankenschwester Michaela Roeder (30) zum Medienereignis. Von einem Pulk unerbittlicher Fotografen ins Blitzlichtgewitter genommen, hatte die Angeklagte Mühe, zu ihrem Platz zu gelangen. Jede Regung der als „Todesengel“ in zahllosen Berichten vorverurteilten Frau wird von den PressevertreterInnen schriftlich festgehalten. Ein Fotograf greift der Angeklagten sogar ans Kinn, um ihren Kopf richtig ins Bild zu drehen. Michaela Roeder steht seit gestern vor der 5.Großen Strafkammer des Wuppertaler Landgerichts. Die Staatsanwaltschaft wirft der Krankenschwester vor, während ihrer Dienstzeit auf der Intensivstation des St.-Petrus -Krankenhauses in Wuppertal-Barmen 17 schwerkranke Menschen durch Injektion des blutdrucksenkenden Mittels „Catapresan“ und in fünf Fällen zusätzlich mit Kaliumchlorid ermordet zu haben.
Für den Anklagevertreter hat Michaela Roeder sich damit als „Herrin über Leben und Tod“ aufgespielt. Sie habe „Macht demonstrieren“ und sich „lästiger Patienten entledigen“ wollen. Die Anklagebehörde hielt an dem Vorwurf des Mordversuchs fest, auch nachdem die Kammer unter Vorsitz von Richter Watty (53) den Hinweis gab, daß in allen Fällen auch eine Verurteilung wegen Totschlags in Betracht komme.
Michaela Roeder gestand in ersten polizeilichen Vernehmungen, acht Menschen „von ihrem Leiden erlöst“ zu haben. Eine weitere Person habe sie fahrlässig getötet. Nach Darstellung ihrer Anwälte Siegmund Benecken und Ulrich Bauschulte hat sie aus humanitären Gründen gehandelt: „Sie hat die Patienten von einer entwürdigenden Verlängerung des Sterbens durch die Apparatemedizin bewahren wollen.“ Die Verteidiger warfen gestern dem Staatsanwalt vor, noch während der Ermittlungen ein Bild der Angeklagten als eiskalter Mörderin gezeichnet zu haben, das an seiner Unvoreingenommenheit zweifeln lasse. Sie überlegen, eine Abberufung zu beantragen. Während ihrer beinahe drei Jahre währenden U-Haft war Michaela Roeder acht Monate lang zur psychologischen Begutachtung in Hamburg. Die beiden Gutachter, der Psychologe Dr.Maisch und der Psychiater Prof.Dr. Schorsch mochten sich vorläufig nicht eindeutig zur Schuldfähigkeit äußern. Die beiden Hamburger Gutachter, beanstandete Staatsanwalt Majorowsky, hätten der Angeklagten „Hilfestellung bei der Bewältigung ihrer Probleme“ gegeben. Aufgrund der langen Untersuchungszeit und des sich daraus entwickelten Verhältnisses sei den Gutachtern die nötige Distanz zu Michaela Roeder abhanden gekommen. Deshalb beantragte Majorowsky gestern die Hinzuziehung eines weiteren Gutachters. Prof.Dr.Paul Bresser soll als „präsentes Beweismittel“ - Michaela Roeder ist nicht bereit, mit ihm zu reden - allein aufgrund von Beobachtungen während des Prozesses beurteilen, daß bei der Krankenschwester keine „schwere seelische Abartigkeit“ vorliege. Ob Michaela Roeder kaltblütig gemordet oder aus Mitleid getötet hat, soll der auf - vorläufig - 26 Tage terminierte Prozeß klären. Die Angeklagte kündigte an, sie werde sich im Verfahren zu ihren Motiven äußern.
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