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Stammheim verläßt niemand ungestraft

■ Ein umstrittenener Schriftvergleich ist diesmal das einzige Indiz / Aus Stammheim Dietrich Willier

Vier Monate dauerte die Hauptverhandlung gegen Andrea Sievering und Eric Prauss. Angeblich waren sie Mitglieder der RAF und 1986 an einem Sprengstoffanschlag auf die Rüstungsfirma Dornier beteiligt. Zwölf Jahre Gefängnis hat die Bundesanwaltschaft gefordert. Gestern plädierten die Verteidiger, und die Angeklagten zählten sich in ihren Schlußworten nur zum „militanten politischen Widerstand“.

Stammheim, das ist vierzehn Jahre grauer betonierter Prozeßbunker neben ebenso trostlos grauer Untersuchungshaftanstalt, dort wo die Mietskasernen der Justizvollzugsbeamten aufhören und wo das Lange Feld beginnt. Stammheim, das im nebligen Winter hinter den betonierten Sichtblenden noch grauer ist als sonst.

Stammheim, wo hinter dem Beton dieser Mehrzweckhalle seit dem ersten Prozeß gegen Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Jan Carl Raspe nur ein Zweck verfolgt wird: zu verurteilen. Zwischen zwei Jahren und fünfmal lebenslänglich. Ein einziger Freispruch in vierzehn Jahren, da ging es um das Verteilen von Flugblättern. Stammheim, das ist der Gerichtssaal, der die Öffentlichkeit scheut, und den die Öffentlichkeit scheut. Stammheim, das ist der Ort, an dem nach Gesetzmäßigkeiten verurteilt wurde und wird, für die es Gesetze noch nicht gab und gibt.

Stammheim symbolisiert wie kein zweiter Ort die Geschichte der Rote Armee Fraktion und eines gescheiterten Teils der Studentenrevolte. Nach Stammheim kamen einst Jean Paul Sartre und hunderte von Journalisten, heute sind es an den meisten Prozeßtagen noch ein paar handvoll junger Leute. Stammheim, das ist heute das unwidersprochene Terrain der Ankläger von der Karlsruher Bundesanwaltschaft. In Stammheim geht jede Anklage durch, hier zählt jeder Beweis, hier ist jeder Zynismus gegen Angeklagte erlaubt, hier gibt's keine Zweifel. Stammheim, das ist ein Urteil, noch vor Verlesung der Anklageschrift.

Anschlag auf Dornier

Am 25.Juli 1986 detoniert im Werkshof der Daimler-Benz Tochtergesellschaft Dornier in Immenstaad am Bodensee nach vorheriger Warnung eine Autobombe in einem roten VW-Golf. Am Zaun der Anlage wird ein vierseitiges Bekennerschreiben gefunden, drei weitere gehen nach zwei Tagen bei verschiedenen Zeitungen ein. Wenige Tage später werden zwei Frauen und ein Mann in einer Rüsselsheimer Eisdiele verhaftet. Christian Kluth, so die Anklage, soll an dem Anschlag auf Dornier beteiligt gewesen sein. Er wird im Juni 1988 zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt.

Ende 1987 werden in Düsseldorf Eric Prauss und Andrea Sievering verhaftet. Mitgliedschaft in der RAF wirft ihnen die Anklage vor - was sie bestreiten (siehe Artikel unten). Zwecke und Tätigkeiten der RAF, so die Bundesanwaltschaft, seien auf Mord und Totschlag, Geiselnahme, Brand und Sprengstoffanschläge gerichtet.Andrea Sievering soll mit Kluth verlobt gewesen sein und die Bekennerbriefe an Zeitungen handschriftlich adressiert haben. Eric Prauss soll vor dem Dornier-Anschlag zusammen mit Kluth ein paar Tage in einem Ferienhaus in der Eifel verbracht haben und ideeller Urheber des Bekennerschreibens sein. Beide Angeklagten sollen mit Kluth zusammen in einem besetzten Haus der Düsseldorfer Kiefernstraße gewohnt haben.

Seit letzten September stehen sie vor dem 5.Strafsenat des Stuttgarter Oberlandesgerichts. Zur Beweisaufnahme wurden 60 Zeugen und zwei Gutachter vernommen.

Eine ältere Frau aus einem Dorf am Bodensee tritt in den Zeugenstand. Verschüchtert blickt sie sich um. Ja, bei ihr hätten in der fraglichen Zeit zwei junge Leute, ein Mann und eine Frau, in Pension gewohnt. Nein, gesprochen habe man nichts, aber einmal hätten die beiden aufs Frühstück verzichtet, und dann hätte sie beim Aufräumen des Zimmers einen Fotoapparat und ein Stück Kabel gesehen. Und der rote Golf müsse wohl auch ihnen gehört haben. Als sie wieder abgereist waren, jedenfalls, sei auch der Golf weggewesen. Auf den bis dahin vorgelegten Fahndungsfotos hatte sie niemanden wiedererkannt.

Doch dann fordert Richter Herbert Schmid die Zeugin auf, hinüberzugehen und sich die Angeklagten anzusehen. Die Zeugin erhebt sich, neigt den Kopf, versucht das Profil zu erkennen - lange braune Haare habe sie gehabt, die Frau damals. Lange braune Haare hat auch Andrea Sievering. Sie tuschelt mit ihrem Mitangeklagten, lacht der Zeugin entgegen. Lange braune Haare, murmelt die, und geht zurück in den Zeugenstand. Die Haare, Herr Richter, lang und braun

-wie eine Doppelgängerin, da bin ich mir ganz sicher. Schließlich habe sie auch den Herrn im Wartezimmer, den Polizisten aus Überlingen, sofort wiedererkannt - ihr Erinnerungsvermögen sei schon noch in Ordnung. Nur der rote Golf, der habe vier Türen gehabt, und nicht zwei. - Den Antrag der Verteidiger, einen Düsseldorfer Postbeamten zum Beweis dafür zu vernehmen, daß Andrea Sievering zur fraglichen Zeit gar nicht am Bodensee war, lehnt das Gericht ab. Die Behauptung der Zeugin könne als wahr unterstellt werden.

Gutachter gewechselt,

Beweis gesichert

Mit vergleichenden Schriftgutachten in Stammheimer Prozessen beauftragen Bundesanwaltschaft und Oberlandesgericht für gewöhnlich Experten des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden. In den Taschen Christian Kluths war, lange bevor er verhaftet wurde, bei einer zufälligen Kontrolle ein handschriftlicher Zettel gefunden worden, mit Parolen ähnlich denen, die nachher in dem Bekennerschreiben auftauchten - laut Anklage mit der gleichen Handschrift. „Der imperialistischen Bourgeoisie keinen Raum zur Rekonstruktion ihrer Herrschaft lassen“, hieß es da, „im fight leben“ und „befreiung in der metropole“. Parolen, wie sie in zahlreichen Flugblättern stehen und an zahlreiche Mauern gemalt sind.

Eric Prauss, behauptet die Bundesanwaltschaft, sei wegen der Ähnlichkeit der Parolen auch Urheber des Bekennerschreibens. Doch Barbara Wagner, wissenschaftliche Oberrätin des BKA, hält in irher Expertise die Tatschrift für grafisch unergiebig und siedelt auch die Wahrscheinlichkeit, daß die Adressen auf den Bekennerschreiben von Andrea Sievering stammen, am unteren Ende einer Bewertungsskala an. Zu einer Verurteilung reicht das kaum.

Doch gibt es nicht noch andere Schriftsachverständige? Die Bundesanwaltschaft erinnert sichdes Privatpsychologen, Graphologen und „Experten“ für alle Fälle, des Hans Ockelmann aus Hamburg. Ein Anruf genügt, und Ockelmann liefert binnen Wochenfrist das Gewünschte. Nach eigener bewährter Methode, untrüglich sein Urteil: Die gefundene Parole und die Adressen der Bekennerschreiben sind mit den Handschriften von Prauss bzw. Sievering hundertprozentig identisch.

Die Verteidiger wollen daraufhin einen Obergutachter. Prof.Michels aus Mannheim gilt in der Bundesrepublik als der Papst unter den Schriftsachverständigen. Das Gericht lehnt ab. Prof.Michels soll, wieder auf Antrag der Verteidiger, als Zeuge zu den wissenschaftlich fragwürdigen Methoden des Gutachters Ockelmann vernommen werden - das Gericht lehnt ab. Die Verteidiger benennen weitere Schriftexperten aus dem In- und Ausland - das Gericht lehnt jedesmal ab: „Zweifel an der Sachkunde des Sachverständigen Ockelmann teilt der Senat nicht, Schlußfolgerungen sind Sache des Gerichts.“

Polizeijagd auf

Prozeßbesucher

Am 29.November vergangenen Jahres tritt die vom selben Gericht zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilte Eva Haule-Frimpong als Zeugin in Stammheim auf. Frau Haule -Frimpong bekennt sich als Mitglied der RAF. Ihre Aussage: Einzelne Genossen der „illegalen Militanten“ hätten sich in den Jahren 84/85 entschlossen, ihren Kampf aus der Illegalität fortzuführen - sie hätten 1986 die Aktion gegen Dornier gemacht, sagt sie in ihrer Erklärung. Christian Kluth, Andrea Sievering, Eric Prauss, Rolf Hartung und Luitgard Hornstein seien dagegen ebensowenig in der RAF organisiert gewesen wie andere Genossen aus dem Widerstand. In diesem Prozeß sollten die Fakten offenbar umgebogen werden.

In der Mittagspause dieses Prozeßtages wurden etwa 60 Prozeßbesucher vor dem Gerichtsgebäude von Polizeifahrzeugen und Berittenen erwartet. Die Gruppe wurde eingekesselt, einzelne mit Gewalt herausgezerrt, andere bis weit in Richtung Innenstadt verfolgt. Vier Personen wurden vorübergehend festgenommen.

Prozeßdauer und geringe Öffentlichkeit, so Bundesanwalt Schulz in seinem Plädoyer kurz vor Weihnachten, hätten dem Rang der Angeklagten in der Szene entsprochen. Pseudorevolutionäre seien sie, Etikettenschwindler, die von den monatlichen Schecks der Mutter lebten. Und dennoch: „schlichtweg Mitglieder einer terroristischen Vereinigung, die schwere Straftaten begangen haben“. Nach der Parole „Guerilla - Widerstand - eine Front“ gehörten die Angeklagten zur zweiten mitgliedschaftlichen Ebene der RAF „eine Arbeitsteilung in reinster Form“. Aus zahlreichen politischen Erklärungen und einem sogenannten „Mai-Papier“ sei das zu ersehen.

Der militante Widerstand habe sich der Führungsstruktur der RAF unterworfen und sich organisatorisch eingegliedert. Sievering und Prauss hätten ihre Aktivitäten dann auch in der Haft fortgesetzt und sich in Äußerungen zum gemeinsamen Kampf bekannt. Ihre Sympathie zur RAF sei unüberhörbar, sie billigten deren Ziele und hätten teilweise in der Illegalität gelebt. Der Rest des Plädoyers entsprach der Anklageschrift zu Prozeßbeginn.

Heute in einer Woche will der 5.Strafsenat des Stuttgarter Oberlandesgerichts sein Urteil fällen - mit der fragwürdigsten Beweislage, die es je in diesen kahlen, grauen Mauern gab. Stammheim hat sich nicht verändert in vierzehn Jahren, nur die Urteile sind härter geworden und das Interesse der Öffentlichkeit geringer. Ach, bevor wir es über unserer Chronistenpflicht vergessen: Theodor Prinzing, der erste Stammheim-Richter, der nach einem Skandal um Abhörmikrophone in den Zellen der Gefangenen wegen Befangenheit entlassen wurde, ist vor wenigen Wochen in den Ruhestand versetzt worden. Mit einem Bundesverdienstkreuz.

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