: KEINE KRITIK DER FOTOGRAFIE
■ An „Seelenregungen“ mangelt es den Schaubühnenschauspielern nicht
Unmittelbare Gefühle“ und „Wege zum Selbst“ sind noch sehr beliebt in den Therapiespalten der Kleinanzeigen; ansonsten wird wohl jeder inzwischen begriffen haben, daß alles, worüber wir sprechen können, woran wir uns erinnern und was wir aufzeichnen, vermittelt ist; die Umdrehung, das Medium sei die message, ist zu diesem Glauben an die „Unmittelbarkeit“ das plumpeste Gegenmodell.
Die Archäologie zum Beispiel und die Psychiatrie des letzten Jahrhunderts hätte es so nicht gegeben ohne die Fotografie und den Film. Verrückte, die ihre „typischen“ Symptome nur ungern vor vollen Hörsälen zeigten, wurden per Zelluloid zu kalkulierbaren Dauerpatienten. Nicht wenige brave Bürgersleute, die in Fotostudios um die Jahrhundertmitte Modell saßen, sahen (bei Belichtungszeiten von einer halben Minute und mehr) zwar auch ziemlich verrückt aus. Aber das war quasi eine Frage der richtigen Bildunterschrift. Eine carte visite ist nicht die Karteikarte eines Patienten und auch kein Fahndungsfoto.
Die Experimente des französischen Arztes Duchenne, popularisiert durch Charles Darwin, waren geprägt vom Glauben ans Messen, Erfassen, Katalogisieren. Duchenne setzte einzelne Gesichtspartien seiner Patienten unter Strom und ließ die Resultate, verständlicherweise Grimassen, fotografieren. So meinte er, dem Ausdruck menschlicher Seelenregungen auf die Spur zu kommen. Darwin sah die Wahrhaftigkeit der Experimente dadurch bestätigt, daß Dritte die „Gefühlsregungen“ der Abgebildeten identisch beschrieben.
Würden nicht in der Schaubühnen-Galerie neben der Discothek „far out“ Reproduktionen einiger Fotos von Duchenne -Patienten ausliegen, hätte ich niemals die Verbindung von der borniert-positivistischen Seelenforschung des letzten Jahrhunderts zu den gezeigten Schauspielerfotos ziehen können. Diese Fotografien, in geschmacklosen „Bildhaltern“, hochglänzend faltenwerfend, zeigen Porträts von Otto Sanders, Jutta Lampe, Helga Pedross, Gerd Wameling - und wie sie sonst noch heißen, die „Gesichter“ der Schaubühne. Sie tun, was sie sonst auch tun: sie spielen Rollen. Dabei tragen sie ziemlich dick auf. Das liegt sicher auch wieder am Medium. Nicht nur, daß die Kamera den Schauspielern dichter auf die Pelle rückt als die erste Reihe im Theater das jemals könnte. Sie fixiert den Moment und gibt die Anstrengung des Schauspielers, die man nun plötzlich „mitsieht“, der Lächerlichkeit preis.
Ziel des Projekts von Mark Blezinger (Konzept) und Joachim Gern (Fotos) war, „Seelenregungen aus zweiter Hand“ nachzustellen. Also die Katalogisierung der Gefühle mit Hilfe der Schauspieler noch einmal zu beginnen. Das ist ohnehin ein schwieriges Vorhaben; denn wenn deutlich werden soll, daß sich die Darstellungen auf einen Modus der Darstellung (Duchenne) beziehen, hätten die „Seelenregungen“ eigentlich sehr mechanisch, gleichsam aus dritter Hand erscheinen müssen.
Was zu sehen ist, ist der Schweiß der Kunst, Kunstgewerbe und Eitelkeit. Dabei sind - abgesehen von mangelnder Relexion über Sinn und Unsinn des Gesamtvorhabens mindestens zwei schwere Fehler gemacht worden. Der erste ist, daß jeder zweite Schauspieler in einer Maske und in Kostümen erscheint aus Rollen, die bereits gespielt wurden. So erscheint mit dem Gesicht ein Speichermedium, was zur Fotopsychiatrie in Konkurrenz stand und steht: Literatur.
Der zweite Fehler ist, daß die Beleuchtung im Verhältnis zu den Rollen unterstützend eingesetzt wurde: schwere Schatten in den Gesichtern, bei wechselndem Hintergrund. So zielt das Foto auf das Individuum, und eben nicht auf die erbärmliche Leerform, als die es die positivistische Wissenschaft gern gesehen hätte. Als Individuen kennen wir die Schauspieler wieder nur von der Bühne, andererseits als (mehr oder weniger) Stars. In dieser Spaltung bleibt das Projekt befangen. Vielleicht hätte man gemeinsam zum Polizeifotografen gehen sollen. Über die Gefühle und ihre Medien, über die Fotografie und die Grenzen der Wissenschaft erfahren wir hier nichts. Und über das Theater nur das, was wir schon darüber wußten.
Ulf Erdmann Ziegler
„Seelenregungen aus zweiter Hand. Photographien des Ausdrucks von Gemütsbewegungen in der Arbeit mit Schauspielern“, neben der Schaubühne am Lehniner Platz (U -Bahn Adenauerplatz). Täglich 16 bis 22 Uhr, bis zum 29.1.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen