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Sehnsucht nach täglicher Betäubung

■ „Mein Kopfweh ist schlimm. Aber fast genauso schlimm ist, wie mein Mann darauf reagiert“, lautet ein Slogan der Pharmaindustrie / Drei neue Bücher über Umfang und Ursachen des Medikamentenmißbrauchs von Frauen

Irene Stratenwerth

Sucht - das Wort weckt Assoziationen von Maßlosigkeit und Zerstörung. „Flucht vor der Realität“ oder „Krankheit“ sind gesellschaftliche Erklärungsmuster. Aber es gibt auch ein ganz anderes, ein weniger aggressives und weniger bekanntes Bild von Sucht, ein typisch weibliches. Es geht um Hunderttausende von Frauen, die tagtäglich Medikamente nehmen. Häufig nicht einmal in extremen Dosierungen, sondern in der vom Hersteller vorgesehenen Menge eingenommen, sind sie die Mittel, um weiter zu funktionieren, um Doppel- oder Dreifachbelastungen, monotone Arbeitsplätze und unerträgliche Ehemänner auszuhalten, um Schmerzen und Depressionen als Folgen eines „ganz normalen“ Frauenlebens nicht zu spüren.

Nur eine Zahl: Bereits 1980 wurden Schlaf- und Beruhigungsmittel in der Bundesrepublik in einer Menge verschrieben, die ausgereicht hätte, um 2,5 Millionen Menschen ein Jahr lang täglich mit einer durchschnittlichen Tagesdosis zu versorgen. Setzt man diese Zahl ins Verhältnis zu den bekannten Zahlen über die geschlechtsspezifische Verschreibung solcher Medikamente, wären unter ihnen 1,9 Millionen Frauen gewesen.

Schlucken und Schweigen heißt ein Buch, mit dem Andrea Ernst und Ingrid Fuller eine Bestandsaufnahme dieser weiblichen Seite von Sucht und ihren Komplizen vorgelegt haben. Komplizen sehen die Autorinnen vor allem im Gesundheitssystem, bei Ärzten, Arzneimittelherstellern und Apothekern, die mit der schnellen Verschreibung psychisch wirksamer Substanzen ihr Geschäft machen. Nach der Lektüre vor allem der Erfahrungsberichte in diesem Buch möchte man diese Reihe ergänzen um all jene Ehemänner, Liebhaber und Arbeitgeber, denen eine tablettenabhängige Frau immer noch lieber ist, als eine, die ihr Leben und ihre Bedürfnisse ernstnimmt.

Psychisch wirksame Medikamente haben vor allem die Funktion, Menschen gesund, das heißt realitätstüchtig zu erhalten. Wie fragwürdig dieser Begriff von Gesundheit ist, zeigen die Autorinnen unter anderem am Beispiel einer amerikanischen Studie, die Menschen aus helfenden Berufen nach ihrem Bild vom gesunden Menschen befragt hatte. „Das Ergebnis war verblüffend. Das Bild vom gesunden Mann entsprach dem Bild vom gesunden Menschen. Das Bild von der gesunden Frau dem psychisch gestörten Mann. Die geistig gesunde Frau wurde wenig abenteuerlustig, wenig objektiv, aber gefühlvoll, emotional, kindlich und scheu beschrieben. Der psychisch gestörte Mann wurde mit genau denselben Eigenschaften bedacht.“ Daß Frauen Beruhigungs- und Schlafmittel, Antidepressiva und Appetitzügler nehmen, um auch in extremen Belastungssituationen noch allen Rollenerwartungen gerecht zu werden, daß wird in den weitgehend ungefilterten Erfahrungsberichten betroffener Frauen, die bei Fuller/Ernst zu Wort kommen, immer wieder überdeutlich.

Den Hintergrund für die Verschreibung von Psychopharmaka führen die Autorinnen auch anhand der „Indikationslyrik“ der Beipackzettel vor: Da werden, auch noch mit Billigung des Bundesgesundheitsamtes, Psychopharmaka zum Beispiel als Mittel gegen „Verstimmungszustände“, „Erregungszustände“, „Überarbeitung“, „Reizbarkeit“ oder „Aufsässigkeit“ empfohlen. Unterdrückte Rebellion

„Mein Kopfweh ist schlimm. Aber fast genauso schlimm ist, wie mein Mann darauf reagiert.“ Eines der vielen, von Ernst/Fuller gesammelten Zitate aus der Pharmawerbung, die deutlich machen, daß es auch bei Schmerzmitteln nicht nur um Linderung für die Betroffenen selbst geht. Schmerzmittel werden in noch viel größerem Maße konsumiert als Schlaf oder Beruhigungsmittel - und überwiegend von Frauen.

Chronische Schmerzzustände sind nach Auffassung der Autorinnen häufig kanalisierte Reaktionen auf weibliche Lebensverhältnisse, die eigentlich Aggression oder Auflehnung provozieren sollten. „Weil Frauen die Möglichkeit der gemeinsamen Auflehnung fremd und verschlossen bleibt, greifen sie auf früh erlernte Formen der Bewältigung zurück. Diese führen auf geradem Weg in die passiv-erduldete Leidensbereitschaft. Und in den Schmerz, der als isolierter, individueller Ausdruck von Rebellion im eigenen Körper wütet.“

Schlucken und Schweigen - ein gründlich recherchiertes, verständlich aufgearbeitetes und in den konkreten Beispielen immer wieder eindrucksvolles Buch. Es hat eine Schwäche: Es nennt als beinahe einzigen Ausweg aus der Medikamentensucht die von den betroffenen Frauen immer wieder geschilderte Langzeittherapie in einer Suchtklinik, in der die Autorinnen ihre Gesprächspartnerinnen überwiegend gefunden haben. „Ich hab ja nicht gewußt, daß es andere Möglichkeiten der Hilfe gibt“, sagen viele dieser Frauen oft im Rückblick auf Jahrzehnte eines unter Tabletteneinfluß kaum gelebten Lebens. Und die meisten waren völlig unaufgeklärt in die Sucht auf Krankenschein gerutscht. Anleitungen zur Selbsthilfe

Einen Ansatzpunkt zum früheren Eingreifen in die Einbahnstraße der Medikamentensucht bietet zum Beispiel ein Projekt wie die „Informationsstelle Frauen-Alltag -Medikamente“, die im Oktober 1987 in Hamburg eröffnet wurde. Die Psychologin Sibylle Ellinger und die Sozialökonomin Angelika Nette stehen hier - auf der Basis von ABM-Stellen - betroffenen Frauen zur Information und Beratung über die Wirkungen und Nebenwirkungen psychisch wirksamer Medikamente zur Verfügung.

Nach ihren Beobachtungen leiden sehr viele Frauen unter Beschwerden unterschiedlichster Art, ohne daß diese als Nebenwirkungen einer dauernden Medikamenteneinnahme erkannt werden. Die beiden Beraterinnen kommen in ihrer Arbeit vor allem mit Frauen in Berührung, die von einer relativ niedrigen Dosis eines Medikamentes abhängig sind: Eine Sucht, die sozial gut verträglich ist und niemandem schadet

-außer den Frauen selbst. Gemeinsam mit den Frauen suchen sie nach Unterstützungsmöglichkeiten bei der Bewältigung ihres Alltages und des Tablettenentzuges.

„Auf die Unterstützung von Seiten ihrer Ehemänner können die Frauen in den seltensten Fällen rechnen“, erzählt Sibylle Ellinger, „ganz im Gegensatz zu süchtigen Männern, die entziehen wollen. In den Angehörigengruppen von Süchtigen sitzen zu über 90 Prozent Frauen.“ Ein Schwerpunkt der „Informationsstelle“ ist auch die Weiterbildung und Beratung von KollegInnen aus helfenden Berufen zum Thema Medikamentenabhängigkeit. Verschluck Dich nicht! heißt eine sehr informative kürzlich erschienene Broschüre über psychisch wirksame Medikamente, an deren Erstellung Sibylle Ellinger und Angelika Nette beteiligt waren.

Anleitung zur Selbsthilfe will ein ebenfalls vor kurzem im „Orlanda Frauenverlag“ erschienenes Buch geben: Bunte Pillen - ade! von Valerie Curran und Susan Golombok. Das ursprünglich in England erschienene Buch ist dem von Ernst/Fuller thematisch relativ ähnlich, in bezug auf Aktualität und Gründlichkeit der Recherche aber deutlich unterlegen. Im letzten Teil des Buches wird ein Selbsthilfeprogramm zum Tablettenentzug vorgelegt.

Der über Monate hinweg langsam „ausschleichende“ Entzug ohne fremde Hilfe ist ein extrem schwieriger Weg - denn in aller Regel sind die Probleme, die zum Medikamentenkonsum führten, nicht gelöst, und hinzu kommen nun auch noch die Entzugssymptome, die auch bei niedrig dosierter Abhängigkeit bis hin zu psychischen Ausnahmezuständen führen können. Auf diesem Hintergrund erscheinen die Tips, die die Autorinnen als Krisenhilfen geben, beinahe zynisch. So schlagen sie zum Beispiel vor, sich selbst immer wieder Sätze wie „Diese Krise geht vorbei“ oder „Ich hab das im Griff“ vorzusprechen, oder sich zur Ablenkung auf Tätigkeiten wie „Handarbeiten“ oder „Gartenarbeit“ zu stürzen.

„Habe mir gut zugeredet“ geben sie zum Beispiel auch als Ausweg aus einer typisch weiblichen Überlastungssituation an: Der Abteilungsleiter im Büro verlangt Mehrarbeit, die Betroffene reagiert „nervös“, weil sie Angst hat, wegen der Kinder zu spät nach Hause zu kommen. Zähne zusammenbeißen, durchhalten und sich selbst verleugnen - hier wird als Ausweg aus der Medikamentensucht allzuoft genau der Weg angegeben, der die Frauen erst in die Abhängigkeit hineingeführt hat.

Andrea Ernst/Ingrid Fuller:

Schlucken und Schweigen. Kiepenheuer und Witsch, Köln 1988

Barbara Trupp, Angelika Nette, Sibylle Ellinger: Verschluck Dich nicht!, Ergebnisse-Verlag, Hamburg 1988

Valerie Curran, Susan Golombok: Bunte Pillen - ade! Orlanda Frauenverlag, Berlin 1988

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