: Voltaire & Blixa Bargeld
■ Seit gestern läuft in der Schauburg Peter Sempels „Dandy“ nach Voltaires „Candide“ mit einer Handvoll Heroen der Subkultur
„Der Reiter hat Stil, schmeichelt den Augen, die Hände in Bandagen.“ Ein Film, der mit eben diesem Insert beginnt, muß ein sonderbarer sein. Das Zitat ist aus Voltaires Candidide, jenem rastlosen Wanderer zwischen den Welten auf der Suche nach sich selbst und dem Sinn des Daseins. Peter Sempel hat sich des Stoffes angenommen und einen ganz und gar wunderlichen Film erstellt. Nicht, daß Dandy eine Revolution im Kino bedeutete: die Machart entspricht so ganz dem Wesen der Romanfigur Voltaires.
Sempel bietet dem Publikum eine Ton- und Bildkollage an, die zum Nachdenken anregt. Es ist keine leichte Kost, die sich da 93 Minuten lang über die ZuschauerInnen ergießt, denn dazu liegen die einzelnen Zutaten dieser cineastischen Mahlzeit zu schwer im Magen. Da ist zuerst Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten, bleichgesichtiger Mittelpunkt der Nichthandlung und Sänger sinistrer Texte. Mag die Schnittfolge manchmal noch so schnell vorwärts streben, dieses Gesicht bleibt in der Erinnerung haften. Wenn sein Kopf in einer Großaufnahme die ganze Leinwand ausfüllt, mag der Eindruck entstehen, als wollte Sempel rhythmisch eine bestimmte Linie verfolgen. Doch die nächste Einstellung überrascht dann wieder vollends. Wie durch ein Kaleidoskop, das immer wieder durchgeschüttelt wird, werden wir durch die weite Welt geschickt, um sie mit den Darstellern zu erleben. Dieter Meier, Lebenskünstler und Musiker der Schweizer Formation Yello, sieht in Indien den rituellen Waschungen zu, bummelt durch Straßen voller Rikschas und heiliger Kühe oder transportiert eine beblümte Kaffeekanne mit Ganges-Wasser in den Himalaya.
Nick Cave, australischer Underground-Musiker und Sänger intoniert in einem schwach erleuchteten Raum sein You better run oder trinkt ganz einfach ein Bier. So beiläufig und beliebig dies alles klingen mag, eine gewisse Faszination ist Dandy nicht abzusprechen. Musik von Yello, Nick Cave, Mozart, Crass, Birthday Party, Einstürzende Neubauten, Beethoven, Bach, Verdi und den Toten Hosen vermittelt den jeweiligen Bildern einen völlig anderen Stellenwert, hebt Alltägliches aus gewohntem Kontext.
Immer wieder beherrschen Gesichter das Bild. Bekannt und unbekannt huschen sie über die Leinwand und bewirken so Assoziationen im Kopf. Der Zustand der Zeiten formt sich als Puzzle vor dem geistigen Auge der BetrachterInnen, und so ergeben sich letztendlich ebensoviele verschiedene Filme, wie es KinobesucherInnen gibt.
Dandy ist eigentlich ein Kunstwerk, das dem falschen Medium zugeordnet ist. Als Videoproduktion oder lebendiges Wandgemälde auf einem Bilschirm könnte Sempels Arbeit noch mehr Wirkung erzielen. Denn dann könnten wir hinschauen, wenn es für uns persönlich etwas Spannendes oder Interressantes zu sehen gibt und uns einem Gespräch zuwenden, wenn bestimmte Sequenzen nicht unbedingt unsere Aufmerksamkeit verlangen.
„Was würden sie tun, wenn Sie noch zehn Tage zu leben hätten?“ lautet eine Frage an Menschen in Berlin und New York. „Nach Tibet reisen, um auf dem Dach der Welt zu sterben“, ist eine Antwort. Denkbar wäre allerdings auch: Ich mache einen Film. Ganz genauso wie ihn Peter Sempel gemacht hat. Nur auf meine Art.
J.F.Sebastian Schauburg, 23 Uhr
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