: „Nicht gegen Europa, gegen Germanen“
Neapels Stahlwerke stehen vor der Schließung / Mehr als 3.000 Arbeitsplätze in Gefahr / EG-Quoten für die Stahlproduktion verringern die Stahllieferungen in den Süden Italiens / Umweltschützer zufrieden ■ Aus Bagnoli Werner Raith
„Du solltest“, sagt Stefano Giardini und klopft mir vielsagend auf die Schulter, „den Kollegen lieber nicht auf die Nase binden, daß du vom Norden kommst. Weder aus Deutschland, noch aus Rom. Laß lieber ein paar neapolitanische Vokabeln raus, empfiehlt sich derzeit immer.“ Stefano ist Vorarbeiter an einem der Hochöfen in der „Citta siderurgica“ Bagnoli, dem Stahlzentrum westlich von Neapel. Derzeit allerdings hat er den Blaumann und den gelben Helm weniger als Arbeitskleidung an denn als Erkennungsmerkmal für Schicksalsgenossen: Wie er sollen innerhalb der nächsten Monate mehr als 3.000 der derzeit 4.000 Stahlwerker in der Stadt ihren Arbeitsplatz verlieren
-„und das, obwohl wir in den letzten Jahren sowieso schon mehr als 5.000 Posten abgebaut haben.“
Deshalb haben Stefano und die anderen Arbeiter der Hochöfen und Walzwerke nun schon zum siebten Mal seit Weihnachten die Arbeit niedergelegt. Am Mittwoch hat sich der Ausstand zum Generalstreik in ganz Neapel ausgeweitet; an die 50.000 Personen sind zum Rathaus gezogen, um eine Revision der „Schandverträge von Brüssel“ zu verlangen. Darin nämlich hatten die zwölf EG-Staaten nicht nur neue Quoten für die Stahlproduktion jedes Landes festgelegt, sondern genaue Richtlinien für Weiterbetrieb oder Stillegung einzelner Fabriken beschlossen - und genau darin hat sich das Stahlkombinat Bagnoli verfangen. Denn Bagnoli macht Miese: 140 Millionen Mark Verlust errechnete die Staatsholding IRI für 1988. Da die neuen Normen vor allem von den Deutschen durchgesetzt worden sind, richtet sich ein Großteil der Wut just gegen die Germanen. Doch auch Römer mögen die Leute aus der Campania im Augenblick ganz und gar nicht: War es doch ihr eigener Minister für Staatsliegenschaften Carlo Fracanzani, der „sich wie ein Waschlappen hat über den Tisch ziehen lassen“, so ein Redner bei der Großkundgebung.
Höchste Produktivität
In der Tat haben Roms Ministeriale entweder nicht kapiert, was da in Brüssel vor sich ging - bei der durch den Postenschacher der Fünfparteienkoalition verbürgten Inkompetenz vieler Ressortchefs durchaus glaubhaft - oder die Metaller bewußt getäuscht. Als die Leute aus Bagnoli im Juni vergangenen Jahres erstmals wegen Schließungsgerüchten zu einer Demo ausrückten, hatte Fracanzani sie glauben lassen, die neapolitanische Metallindustrie sei auf Jahre hinaus gesichert - was die Italiener auch schon deshalb ohne große Bedenken glaubten, weil die Stahlküche dort zu den modernsten in ganz Europa gehört und mit die höchste Produktivität ausweist.
Doch nun sieht alles anders aus - und da genau vermuten die Italiener wieder einmal germanische Verhandlungstricks: Zwar soll auch nach der neuen Regelung das Warmwalzwerk in Bagnoli erhalten bleiben, womit an die 850 Arbeitsplätze gesichert scheinen. Doch wenn die Hochöfen geschlossen werden - und genau das sehen die Vereinbarungen vom 23.12. 1988 vor -, dann mangelt es am Stahl, mit dem die Werke gefüttert werden. Die umliegenden noch weiterbetriebenen Öfen können allenfalls 200.000 Tonnen jährlich liefern benötigt wird aber, um die Werke auszulasten, mehr als das Sechsfache. Von den noch verbliebenen Stahlwerken in Triest und Tarent Stahl anzukarren, ist wegen der schlechten Verkehrsverbindungen zu teuer - „und daher“, resümiert der Sprecher der Metallergewerkschaft UILM, Agostino Conte, „rechnen sich die Deutschen hervorragende Chancen aus, ihren eigenen Stahlüberschuß loszuwerden.
Der Verdacht, die deutsche Forderung nach Schließung der Stahlöfen in Bagnoli sei weniger mit Subventionsabbau oder mangelnder Rentabilität begründet, sondern schlicht mit dem Ergattern neuer Märkte für die potenten Nachbarn im Norden, klingt in allen Reden durch. Viele meinen, daß der Kampf um die Stahllieferungen erst der Anfang ist. „Wenn wir für die Walzwerke auf Importe angewiesen sind“, ruft der Sektionschef des größten Gewerkschaftsverbandes CGIL, Eduardo Guarino, „werden sie nach zwei Jahren daherkommen und uns erklären, daß auch diese Einrichtungen unrentabel arbeiten, und auch sie schließen. Und die Deutschen sind danach konkurrenzlos.“
Die Arbeiter sehen das genauso. „All die Hoffnungen, die wir auf die EG gesetzt haben“, sinniert triste Giorgio Beniventi, der im vergangenen Jahr mit einer Delegation eigens nach Brüssel gereist war und mit hoffnungsvollen Zusagen der zuständigen Ressortleiter zurückgekommen war, „sind verflogen. Wieder einmal lassen die den Süden im Regen stehen.“ Tatsächlich hat die ausgehandelte Regelung vor allem in Italiens „Mezzogiorno“ - von Rom den Stiefel abwärts - schwere Konsequenzen: 70.000 Stahl- und Eisenwerker gibt es derzeit in Italien (halb so viele wie 1980), mehr als 30.000 davon südlich von Rom. Nach dem Abbau der Kapazitäten werden es im ganzen Land noch 45.000 sein doch dem Süden verbleiben davon allenfalls 10-15.000.
Stinkendes Symbol
Nicht alle freilich sind so ganz unglücklich, wenn die Stahlküchen aus dem Neapolitanischen verschwinden. Vom Standpunkt des Umweltschutzes her sind die Ausstöße der Fabriken verheerend: In den Zügen, die durch diese Gegend fahren, hat die staatliche Eisenbahn ausdrückliche Warnungen vor dem Fensteröffnen angebracht, und wer zu Fuß oder mit dem Auto durchfährt, bekommt den Hustenreiz nicht los. Bäume und Sträucher sind seit Jahren grau, die Häuser von einer Teer- und Staubdecke überzogen.
„Tatsächlich“, so ein - allerdings nur zaghaft verbreitetes - Flugblatt der Grünen, „ist die hohe Produktivität von Bagnoli nur dadurch gegeben, daß alle Sicherheits- und Umweltschutznormen außer acht gelassen wurden.“ Die Arbeiter von Bagnoli wollen das nicht hören: „Mag sein“, sagt Stefano, „aber was nützt mir eine gesunde Luft, wenn ich mit meiner Familie vorher an Hunger verrecke?“
Kein Zweifel: Die Arbeitslosigkeit, in manchen Gebieten um Neapel schon an die 30 Prozent herangestiegen, ängstigt die Menschen mehr als der Gestank - selbst diejenigen, die von der Stahlkrise gar nicht betroffen sind. Bagnoli ist für sie alle auch eine Art Symbol - der größte, jemals südlich von Rom entstandene Industriekomplex, „der Beweis“, so Gewerkschaftschef Guarino, „daß auch der Süden industriell denken und produzieren kann.“ Daß sich die Rieseninvestition nun als totale Fehlkalkulation erweist, sehen die Menschen hier nicht als Folge einer weltweiten Entwicklung, sondern schlicht als „eine jener Infamien, die uns der Norden in regelmäßigen Abständen beschert, um uns niederzuhalten und weiter auszubeuten“ - so ein Flugblatt einer autonomen Gruppe bei der Demo.
Neues Feindbild
Immerhin: Die deutsche Intervention hat den Süditalienern eine Art neues Feindbild beschert, das die schon abgegriffene Formel vom Agrardespoten Frankreich (der italienschädliche Normen für Wein und Orangen, für Tomaten und Tabak durchgesetzt hat) ersetzt und das ablenkt von vielen eigenen Versäumnissen, etwa von der verfallenden Infrastruktur, von fehlenden Umweltschutz- und Arbeitsbeschaffungsprogrammen. „Wenn die Deutschen das nicht so offensichtlich gemacht hätten“, sagt Stefano nach der Kundgebung in der „Trattoria Partenopea“, „hätten wir am Ende entweder vor der eigenen Tür kehren - oder die EG als solche in Frage stellen müssen. So aber können wir schön weiterwursteln - als gute Europäer und zugleich als schrecklich zugerichtete Opfer der Teutonen.“
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