: Antisemitismus im Moskauer Wahlkampf
Mitglieder der Pamjat-Bewegung attackieren Redakteur der Reformzeitschrift 'Ogonjok‘ ■ Von Alexander Smoltczyk
Berlin (taz) - Das „Neue Denken“ Gorbatschows befördert nicht nur neue Ideen zutage. So begann der Wahlkampf für die Abstimmung zum Obersten Sowjet in einem Moskauer Versammlungslokal mit antisemitischen Ausfällen. „Korotitsch, alter Jude, gib deine Silberlinge zurück!“ riefen einige Dutzend Mitglieder der russisch -chauvinistischen Pamjat-Bewegung, als der Herausgeber der Wochenzeitung 'Ogonjok‘ zum Kandidaten für die Wahlen im März nominiert werden sollte. Plakate seien, so berichtet die 'International Herald Tribune‘, hochgehalten worden, die den Davidsstern verächtlich machten. Das Treffen soll in Handgreiflichkeiten und allgemeinem Chaos zu Ende gegangen sein.
„Der Antisemitismus von Pamjat setzt 'Liberaler‘ gleich mit 'Jude‘ - und beides sind Schimpfwörter für sie“, wird der angegriffene ukrainische Dichter Vitali Korotitsch, der nicht jüdischer Herkunft ist, zitiert. Seitdem er 1986 die Herausgabe von 'Ogonjok‘ übernahm, hat sich das Magazin zur Wortführerin der Reformer gemausert.
Noch im Mai enthüllte die Zeitschrift 'Ogonjok‘ rechtzeitig vor der Allunions-Parteikonferenz, daß sich unter den Delegierten nicht wenige befänden, die der Korruption verdächtigt würden. Seither ist Vitali Korotitsch Zielscheibe der Konservativen. Hauptgegner ist der sibirische Schriftsteller und Pamjat-Anhänger Valentin Rasputin, der von westlichen Umweltschützern als Bundesgenosse angesehen wird, seit er wortgewaltig gegen ein Flußumleitungsprojekt protestiert hatte.
Erst am vergangenen Freitag, als Gorbatschow sich mit Intellektuellen getroffen hatte, war es zu heftigen Wortgefechten zwischen Konservativen und Glasnost-Anhängern gekommen. Der Vorsitzende des Russischen Schriftstellerverbands, Sergei Michailow, hatte Korotitsch derart angegriffen, daß Gorbatschow eingreifen mußte: „Sergei Vladimirowitsch, weshalb praktizieren unsere Schriftsteller nicht auch die einseitige Abrüstung?“, wird der Parteichef zitiert.
Ein Grund dafür, daß Korotitsch nach dem geschaßten Boris Jelzin - dem Opportunismus und Heuchelei vorgeworfen werden
-, von den Konservativen zum Lieblingsfeind erklärt wurde, mag darin liegen, daß der Literat vor noch nicht allzulanger Zeit dreibändige Lobhudeleien auf Breschnew verfaßt haben soll. Korotitsch selbst erklärte, die heikelsten Passagen seien ihm von den Herausgebern hineinredigiert worden, und kündigte an, in der nächsten Ausgabe von 'Ogonjok‘ die antisemitischen Vorfälle ausführlich zu dokumentieren.
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