: Die Zeitbombe tickt
■ Über Phillip Boa und seine neue Platte
Christof Boy
Wo jeder Erster sein will, muß der Erste einmalig sein. Phillip Boa läßt sich gern von anderen als einmalig bezeichnen, dann muß er es nicht selbst betonen. „Phillip Boa&the Voodoo-Club“: erst „Deutschlands Independent -Hoffnung Nummer eins“, dann „second best band in Germany“ hinter den „Einstürzenden Neubauten“ (New Musical Express); nach dem Wechsel zur Industrie sind die fünf Musiker die „Ute Lempers des subversiven Pops“ ('Die Zeit‘).
1988 war das Jahr der Schlange. Boa, Boa, Boa. Ob die zeitgreisen Postillen, die philosophierenden Kaffeehaus -Musikgazetten oder die saturierten Zeitungen für die Pantoffel-Intellektuellen. Jeder wollte anwesend sein bei der medienweiten Krönung eines neuen deutschen Popstars.
Damit der Erste einmalig bleibt, darf er niemals Erster werden. Erster im Sinne des Musikbusineß ist mit ihrer Meßlatte Massenware. Deshalb hat Phillip Boa, der schon mit dem Vorgängeralbum Copperfield in die Untiefen der Verkaufshitparade geraten ist, für die Veröffentlichung der neuen Platte Hair mit seiner Plattenfirma erst mal einen Hitpuffer ausgehandelt. Sollte die neue Single Container Love jemals über Platz 40 hinauskommen, wird die Platte automatisch aus den Regalen genommen, die Auslieferung gestoppt. Für den A&R-Manager von Polydor muß sich diese Selbstschußanlage zum Horrortrip auswachsen, falls die Platte dieser Gruppe, die nach Udo Lindenberg im Verkauf die Nummer zwei des Hauses ist, tatsächlich zum Hit boomen sollte. Nur einer lacht. Phillip Boa in seiner Lieblingsrolle: als Egozentriker der Unterhaltungsindustrie.
Schließlich hat er, und das ist kein Widerspruch, auch dafür gesorgt, daß eingefleischte Boa-Fans in den ersten Wochen nach Erscheinen von Hair die Plattenläden einrennen werden. Als Belohnung für die treuen Fans liegt den ersten 20.000 Kopien eine Frei-Maxi-Single mit fünf Extra-Titeln bei. Trotz plakativer Hitparaden-Abstinenz muß Boa an die Umsätze denken, denn so sehr er sich davor fürchtet, als Massenprodukt in der Masse unterzugehen - ohne Verkaufszahlen, die über die 50.000 von Copperfield hinausgehen, läßt sich die Selbstverwirklichung eines Lebensgefühls in der Musik nicht finanzieren.
„Die Platte ist ein Manifest“, sagt Phillip Boa, und wird mit einem Kopfnicken von Pia Lund, der Sängerin mit dem Kinderkehlkopf bestätigt, „in einer Zeit, in der es nur Euter-Pop gibt und Tausende von 'R.E.M.'- und 'Hüsker Dü' -Kopien, wollen wir den Leuten zeigen, wo es musikalisch lang geht.“ Manifeste in Musik müssen nicht dogmatisch sein. Hören kann sie jeder. Zwar soll die Musik „anti“ klingen deshalb auch der Titel Hair als Anspielung auf das Musical und die damit verbundene Gegenbewegung der Siebziger -Jugendlichen gegen die Gutbürgerlichkeit -, aber er fühlt sich nicht mehr als Wortführer der Independent-Szene. Die habe sich in seinen Augen selbst verraten. Seitdem sieben bundesdeutsche Independent-Labels zusammen zum „Angriff“ auf die Charts blasen, dreht sich Boa angewidert weg.
Weil er ein Avantgardist sein will, müssen Klischees möglichst täglich gebrochen werden. So kommt es, daß Phillip im vergangenen Jahr von dem Pantheisten Spinoza schwärmte und am liebsten während der Interviews als Hintergrundmusik Griegs Peer Gynt als Endlosschleife vorgespielt hätte. In dieser Saison ist Stockhausen dran, von englischen Musikjournalisten auf die geistige Nähe zu seinem Schaffen hingewiesen, hat Boa nun im Nachhinein auf seinem Frühwerk Philister eine Zwölfton-Passage entdeckt; auf Hair ist dem Komponisten serieller Musik das Stück Strategic Mastery Of Stock Hausen gewidmet. Morgen wird es Satie sein oder Schönberg.
Und die Textzeilen seiner Kompositionen, auf deren Komplexität Boa so stolz ist, daß er am liebsten die systematischen Schemata des Stockhausen-Songs auf dem Kachelfußboden ausbreiten würde, schwanken zwischen Mystik und Banalität, vermischt mit Monströsitäten, die so unglaublich erscheinen, daß sie schon wieder wahr sein müssen.
Container Love zum Beispiel, jene eingängige Single, die nie den Sprung über Platz 40 schaffen darf, erzählt die Geschichte eines Mannes, der nach tragischem Tod der Frau, nach Suff und nach Erniedrigungen plötzlich Gefühle für einen Container entwickelt, den er täglich mit Müll aus einer Disco vollpacken muß: „He was in love with the container/and when the summer begins/ ... he slept in the container.“ Die einzige Geschichte, die auf Tatsachen beruhe, sagt Phillip Boa und wartet die Reaktion seines Gegenübers ab.
In einer Stadt wie Dortmund, die ein „Arbeitslosenprogramm am Laufen hat“, wie der Oberbürgermeister ruhrgebietlerisch radebrecht, in einer Stadt der Stahlstrukturkrise, wo die Zahlen der „freigesetzten Arbeitskräfte“ rascher hochschnellen als Phillip Boas Platte in der Hitparade, ist alles möglich. Da erscheinen Container-Liebe und Staubsauger -Leidenschaften oder die Symptome von Albert Is a Headbanger, der seinen Kopf gegen alles knallt, mehr als wahrscheinlich. Schließlich haben Pia und Phillip „bei Hoesch direkt um die Ecke“ gewohnt, in einem Viertel, in dem die Menschen es schon als Erleichterung empfinden, wenn nur noch werkseigene Lastwagen und nicht mehr der Durchgangsverkehr über die Wohnstraße rollen. Hier hausten die beiden zwischen Kartons voller Platten, denn Phillip Boa wollte es nicht nur aller Welt, sondern auch den mächtigen Musikkonzernen zeigen. Doch sein unabhängiges Constrictor -Label legte sich ihm würgend um den Hals. Als eine englische Vertragsfirma pleite ging, stand das Homemade -Plattenlabel in Dortmund-Hörde ebenfalls kurz vor dem Aus.
Erst das relativ behagliche Polster des Plattenvertrages brachte wieder Hoffnung in die Independent-Heimarbeit; jetzt sind Pia und Boa in den Dortmunder Süden, hinter die unsichtbaren Grenzen des sozialen Elends, gezogen und tüten wieder Platten ein - Rezensionsexemplare von Bands, die keine Plattenfirma will, für Musikjournalisten, die über den Rand des Plattentellers hinausblicken.
An der Wand hängt eine zerbrochene E-Gitarre, deren Tonabnehmer und Saiten herunterbaumeln. Am Hals des Wracks hängt, an einer Saite befestigt, eine Diskette. Auf der Gitarre steht „Time“, auf der Floppy Disc „Time Bomb“. Das „Time“ stehe für Gitarrenrock jener Bands wie „Led Zeppelin“ „und Velvet Underground“, die er heute noch verehre, erzählt Phillip: „Und die Diskette steht dafür, was aus den alten Zeiten geworden ist. Du schiebst sie rein, und dann hast du Musik.“ Die Zeitbombe tickt auch in der Musik von „Phillip Boa&the Voodooclub„; die Oboen, Streicher und Mandolinen, die zwischen der Wall of Sound, den Sägezahn-Gitarren und betäubenden Rhythmen, auftauchen, können auf der Bühne nur noch reproduziert werden, weil Gastmusiker zwar relativ billig ins Studio kommen, aber auf der Bühne unbezahlbar sind. Also muß Pia die Klassik-Teile der Songs vom Sampling -Computer abrufen, „aber wir mischen keine synthetischen Sounds“, sagt sie, als ob sie die Wende zum High-Tech entschuldigen müsse.
Inzwischen ist die Musik von Phillip Boa eingänglicher geworden. Nun gibt er sich geschockt, wenn ein Unbefangener nicht gleich geschockt ist von der neuen Platte. Die Ratlosigkeit, die sich manchmal einstellte, wenn ein Song nur darum bemüht war, alle Stilvergleiche zu vermeiden, jede Harmonie sofort durch einen Bruch ins Konträre aufzuheben, jede Vertrautheit durch krasse Gemeinheiten fürs Ohr zu zerstören, ist verschwunden, zusammen mit dem Ballast der spirituellen Voodoo-Magie unter dem Symbol der Teufelsgeige. Die Attitüde des Manisch-Depressiven pflegt Phillip Boa immer noch, vielleicht ist er wirklich so, ja bestimmt spiegelt die Platte Hair „seinen psychischen Zustand wider“, wie Pia betont; aber der Hörer muß kein Depressiver sein, wenn er Phillip Boa auflegt. Vielleicht liegt das daran, daß Phillip Boa „weg von Sprüchen und Ideologie, hin zur Musik im eigentlichen Sinn, einer idealistischen Musik“ will. Schon wieder ein Schlagwort, aber es trifft das, was auf der neuen Platte zu hören ist. Kein universelles Gegenrezept gegen die Pop-Hegemonie der internationalen Einfallslosigkeit, aber ein Lebensentwurf, der Kunst und Rockmusik verbindet.
Christof Boy
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