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Der Nörgler geht um

■ Karl Kraus stellte 1930 selbst eine Bühnenfassung von „Die letzten Tage der Menschheit“ zusammen Welt-Uraufführung in Frankreich von Enzo Cormann und Philippe Delaigue

Sabine Seifert Drama in fünf Akten

„Die Aufführung des Dramas, dessen Umfang nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde, ist einem Marstheater zugedacht. Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten.“

Der Verfasser jener Zeilen hatte ein Einsehen mit denjenigen, die eine Reise zum weit entfernt liegenden Planeten nicht auf sich nehmen konnten. Karl Kraus (1874 1936) zückte den Stift, korrigierte handschriftlich mit winzigen Buchstaben, strich, änderte, stellte Szenen um und ineinander, alles im Auftrag des Burgtheaters. Eine fünfstündige Bühnenfassung seines Marsdramas entstand darauf um 1930, aus der Kraus öffentlich las, die dennoch nie zur Aufführung gekommen ist und seitdem im Karl Kraus-Archiv der Wiener Stadt- und Landesbibliothek lagert. Publiziert wurde sie erstmals 1986 - in französischer Sprache.

Das Original von „Die letzten Tage der Menschheit“, ein Drama in fünf Akten, geschrieben in den Jahren 1915 bis 1917, umfaßt nahezu 800 Druckseiten, enthält über 200 Szenen und benötigt ungefähr 500 Schauspieler, nicht zu zählen die „zwölfhundert Pferde des Grafen Dohna“ und die „Kohorten der zerlumpten Soldaten“. Ein echtes Drama der Menschheit, den ersten Weltkrieg zum Thema, das kein Drama ist, sondern Kolportage der Kriegszeit, Wort-Kollage, Geräusch-Kollage, ein kollagiertes Sittengemälde, von Kraus fortlaufend in seiner Zeitschrift „Die Fackel“ veröffentlicht. Satirisch und dokumentarisch.

„Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Sätze, deren Wahnwitz unverlierbar dem Ohr eingeschrieben sind, wachsen zur Lebensmusik. Das Dokument ist Figur; Berichte entstehen als Gestalten, Gestalten verenden als Leitartikel; das Feuilleton bekam einen Mund, der es monologisch von sich gibt; Phrasen stehen auf zwei Beinen - Menschen behielten nur eines. Tonfälle rasen und rasseln durch die Zeit und schwellen zum Choral der unheiligen Handlung. Leute, die unter der Menschheit gelebt und sie überlebt haben, sind als Täter und Sprecher einer Gegenwart, die nicht Fleisch, doch Blut, nicht Blut, doch Tinte hat, zu Schatten und Marionetten abgezogen und auf die Formel ihrer tätigen Wesenlosigkeit gebracht.“ Der Nörgler auf der Bühne

Bühnen- und Zuschauerraum liegen im völligen Dunkel. Unerträglich lange kommen Geräusche von einem Fest und Gesprächsfetzen vom Tonband. Schreie in der Menge, Kirmesmusik, Zeitungsausrufer, das ist der Ausbruch des 1. Weltkriegs.

Ein einziges Licht geht an, eine Lampe zu einem Schreibtisch, an dem ein Mann vor einer Schreibmaschine sitzt. Der Schauspieler Stefan Witschi redet in der Sprache des Autors Karl Kraus, er markiert die Rolle des Autors im Stück, dessen Selbstreflexion. Diese Rolle nannte Karl Kraus „Der Nörgler“. Einem Nörgler hört keiner zu. „Denn über alle Schmach des Krieges geht die der Menschen, von ihm nichts mehr wissen zu wollen, indem sie zwar ertragen, daß er ist, aber nicht, daß er war.“

Etwas Licht fällt nun auch auf die andere Hälfte der Bühne, Schummerlicht in einer Bar. Alle reden wild durcheinander, simultan zu jenem österreichischen Intellektuellen, der jetzt in feinsten österreichischen Dialektfärbungen parodiert und Wiener Typen porträtiert, solche, die Gewinn, und solche, die Verlust aus dem Krieg ziehen. Ein Ohrenschmaus für den deutschen Zuschauer der ansonsten französischsprachigen Aufführung im kleinen Pariser Theatre de la Bastille.

Die Regisseure Enzo Cormann und Philippe Delaigue haben der Rolle des Krausschen Nörglers ein verschärftes Profil gegeben - freie Geste der Regisseure, Ehrung des Autors entgegen dessen ursprünglicher Absicht. Übersetzer Heinz Schwarzinger, mit Jean-Louis Besson für die französische Version der fünfstündigen Bühnenfassung verantwortlich, erzählt, daß eine der wichtigsten von Kraus vorgenommenen Änderungen an dem Text die Streichung aller Monologe-Dialoge des Nörglers und des Optimisten gewesen sei. „Kraus hat sich zum Schweigen verurteilt“. Das war 1930. Public Relations

Kein Presseheft betont: der Text wurde in deutschsprachigen Ländern nie gespielt und nie veröffentlicht. Kein namhafter Kritiker nimmt sich des in Frankreich fast Namenlosen an: In der Zeitschrift „Liberation“ erscheint eine Vorkritik, „Le Monde“ geht stillschweigend über das Theaterereignis hinweg. Das Renommier-Festival d'Automne gibt seine Schirmherrschaft, aber keinen Franc Unterstützung, nicht einmal PR-Arbeit.

„Die letzten Tage der Menschheit“ sind in der Langfassung in Frankreich nie publiziert worden. Die fünfstündige Bühnenfassung erschien dort vor zwei Jahren, finanziert mit einem Zuschuß des österreichischen Unterrichtsministeriums, in der Reihe „France-Autriche“ der „Publications de l'universite de Rouen No. 115“, klein und verschwindend.

Die Initiative dafür hatten die Übersetzer Heinz Schwarzinger und Jean-Louis Besson ergriffen. Grundlage ihrer Arbeit war die Transkription des von Kraus handschriftlich überarbeiteten Manuskripts durch Eckart Früh (Kraus-Hefte 13, 1980). Ein Jahr Arbeit hat Schwarzinger und Besson die Arbeit an den „Letzten Tagen der Menschheit“ gekostet. „Wir haben es zu zweit im Sprechen erprobt, das war das Wichtigste“, erzählt Schwarzinger. „Das Lokale läßt sich nicht übersiedeln“, erklärt er weiter, „und bei einer Szene, die den Klangkrieg zwischen Berlin und Wien betrifft, mußten wir ganz passen“. Wie schon bei ihrer Nestroy -Übersetzung merkten die Übersetzer, daß der Text trotz des „Schlagschattens der lokalen Sprachfärbung“, wie sich Schwarzinger ausdrückt, lustig sein kann. „Der Franzose weiß ja nicht, was er verliert“.

Das Geld für eine ursprünglich vorgesehene zweisprachige Ausgabe reichte nicht, der französische Text erhielt den österreichischen Übersetzerpreis. Nachmittagswohlfahrtsteetanten

Die Bühne ist von Kreuzen eingerahmt. Mitteleuropa, ein Schlachtfeld, ein Friedhof. Der Nörgler geht um, ein Gespenst, ein Schatten, der Mahner. Kraus hat den Epilog, den letzten Satz gestrichen. Die Stimme Gottes: „Ich habe es nicht gewollt.“

Aber das hat er gewollt: die Kriegsgewinnler, die Scheinheuchler, die Deutschzackigen, die dichtenden Hurra -Patrioten, die bösartigen Kinder, die Nachmittagswohlfahrtsteetanten, die Kriegsreporter. Sie alle porträtiert, karikiert Kraus in kleinen Szenen, Sketchen, eingefangene Stimmen des Volkes und des Militärs.

Mit Alice Schalek hat Kraus eine reale Figur übernommen. Sie hat als erste Frau Kriegsreportagen geschrieben und erhielt später das „Goldene Verdienstkreuz mit der Krone am Bande der Tapferkeitsmedaille“. Sie interviewte Soldaten an vorderster Front, legte ihnen heldenhafte Worte in den Mund, ließ sie für die vaterländische Presse fotografisch verewigen - und sterben.

Inmitten des Krausschen Szenentumultes ist Alice Schalek wie ihr Antagonist Kraus, der Nörler - eine beständige, wiederkehrende Figur. Die französische Inszenierung zeichnet sie mit der Ambivalenz, die Kraus für sie empfunden haben mag. Die Schalek ist couragiert, herb, aristokratisch und vielleicht lesbisch. Sie geht 'ran an den Mann, den Soldaten wie den Offizier, genüßlich weiß sie davon zu erzählen. Sie korrumpiert die anderen, zuletzt ist sie korrumpiert. Presse und Krieg haben gut zusammen gearbeitet. Der Kriegsberichterstatterin ist beim Durchhalte-Bankett - der großen grotesken Schlußszene, die Deutsche und Österreicher noch einmal siegesverlustig-betrunken zusammenführt - der Ekel anzumerken, alles ist zu einem Desaster geworden, dem sie nicht mehr entkommt. Finanzierung

Enzo Cormann ist von Beruf Dramatiker („Corps Perdus“, „Kabale“, „Exile“, „Ke Voi?“, „Credo“) und hat den Kraus -Text bei szenischen Lesungen entdeckt, die im Pariser Centre Pompidou anläßlich der großen Wien-Ausstellung vor zwei Jahren stattgefunden haben. Mit seinem Freund Philippe Delaigue und dessen Lyoner Theatergruppe „Travaux 12“ hat Cormann Finanzierungsmöglichkeiten für diese Produktion gesucht. Vor allem die „Federation d'Association de Theatre Populaire“ ermöglichte die Produktion und die bis einschließlich Februar durch die französische Provinz führende Tournee. (Und danach?) Die Inszenierung

Die Inszenierung ist stimmig, hervorragende Ensemble-Arbeit. Insgesamt 14 Schauspieler bewältigen mit 160 Kostümwechseln das auf 75 Szenen zusammengeschrumpfte Stück. Ein komödiantisches Glanzstück beispielsweise ist der Medizinerkongreß in Berlin, wo die Herren Boas, Zuntz und Rosenfeld-Breslau mit Irrwitz gegen den gesunden Menschenverstand eines „Irrsinnigen“ die These verfechten, daß „unsere Bevölkerung bei aller Unterernährung gesünder geworden ist“.

Die Schauspieler halten den Ton, die theatralisch -musikalische Struktur des Stückes, die Kraus ihm durch die musikalischen Verknüpfungen und Zitate bekannter vaterländischer Melodien und Schlager verliehen hat. Manche münden in richtiges Revuetheater. Bestandteil der akustischen Collage von Kraus, in der sich Geschrei und Gesang und Gerede vermengen.

Fünf Stunden sind dem Theatergänger zuzumuten.

(Alle nicht gekennzeichneten Zitate von Karl Kraus stammen aus dem in der Bühenfassung gestrichenen Prolog zu „Die letzten Tage der Menschheit“.)

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