: Fragen statt antworten
■ Vasilij Nalimov ist Professor an der Moskauer Universität. In seinem im Sommer 1988 mit Jewgenij Horvath geführten Gespräch zeigt er, wie weit auch die offizielle Philosophie sich in der UdSSR vom DIAMAT emanzipiert hat.
Warum verstehen wir Menschen, die wir eine Sprache sprechen, in der die Wörter einen polymorphen Sinn haben, einander überhaupt? Die Antwort auf diese Frage hätte auch einen rein technischen Aspekt: Solange wir sie nicht herausfinden, können wir keinen künstlichen Intellekt schaffen.
Ich versuche, ein Modell vorzuschlagen, das erklärt, wie und warum wir einander sprachlich verstehen. Mein erstes Buch - Wahrscheinlichkeitsmodell der Sprache - war diesem Problem gewidmet. Es wurde zweimal bei uns in Moskau und einmal in den USA veröffentlicht. Darin gibt es übrigens ein Kapitel, das der Analyse abstrakter Malerei gewidmet ist.
Ich stieß auf das Problem der Schöpfung im weitesten Sinne und auf das Problem der Individualität, der Personalität des Menschen. Des weiteren auf die Ontologie der Welt; wie ist sie aufgebaut? Wie kann man den cartesianischen Dualismus von Geist und Materie überwinden? Doch wohl nicht durch die Reduktion des Einen auf das Andere - das ist keine interessante Variante.
Mir scheint die geistige Spannung, mit der die heutige Atmosphäre beladen ist, nicht zum ersten Mal dazusein, speziell in der Nachkriegszeit...
Offensichtlich kommen wir heute auf die von den Existentialisten aufgeworfenen Fragen zurück. Damals klangen sie allerdings nicht so scharf wie heute. Sie wirkten damals relativ isoliert und exotisch. Jetzt sind sie unsere zentralen Probleme. Die Katastrophe, der die Welt sich nähert, ist augenfällig, und nicht zu lösen mit irgendwelchen halbherzigen Maßnahmen.
Für die Lösung benötigt man ein anderes, umfassendes Verständnis vom Menschen. Das kann zu Fragen führen, die früher gemeinhin der Mystik angehörten. Der Mensch ist kein Automat, er ist kein Uhrwerk; er verfügt über eine sehr tiefreichende Bewußtseinsschicht, in die die gesamte Vergangenheit der Menschheit gepackt ist. Die gesamte Anthropogenese und die Phylogenese.
Wenn man das auspacken würde, käme viel Seltsames zum Vorschein: Esoterik, Okkultismus und so weiter. Alles das wurde ja tatsächlich durchlebt und existiert im Menschen. Der Mensch ist viel komplizierter, als wir glauben. Immer noch. Bis heute.
Man könnte doch die alte Formulierung „deus ex machina“ längst durch „deus ex homo“ ersetzen...
Mir gefällt das nicht. Ich würde nur sagen: Der Mensch ist ein erstaunliches Wesen. Er ist sehr eng mit dem ganzen Universum wie auch mit seiner Vergangenheit verbunden. Ein Wesen mit Bewußtseinskellern, in denen eine Menge unverständlicher Dinge aufbewahrt werden.
Wir können jetzt nicht sagen, was gut ist für den Menschen und was schlecht. Solange der Mensch nicht auf die neue Situation trifft, kann auch er selbst diese Frage nicht beantworten. Ich vermute, das zentrale Problem der modernen Kultur und aller modernen Tätigkeit besteht darin, die Aufmerksamkeit auf den Menschen zu lenken, auf seine Beziehung zur Natur, auf die ökologischen Probleme ringsum.
Überall ist eine große Enttäuschung zu verspüren - auch in der Wissenschaft, vor allem aber in der modernen Gesellschaft. Ungeachtet dessen, daß sie doch eigentlich aufblüht. Schließlich gab es noch nie einen solchen Komfort, wie er, zumindest in einigen Ländern, jetzt anzutreffen ist. Da müßte es doch eigentlich zu einer wahren Explosion der Kreativität kommen, aber wir haben es ganz im Gegenteil mit eher negativen Erscheinungen zu tun. Weltgeschichte als Therapie
Das Problem wird dadurch interessant, daß es sich um ein seinem Wesen nach inter- oder transdisziplinäres handelt. Das macht eine gemeinsame Erarbeitung von Lösungsversuchen unumgänglich. Wissenschaftler, und vielleicht auch Künstler und Kirchenmänner (Geistliche und Theologen), müßten zusammenarbeiten. Womit hat sich denn die Religion beschäftigt, wenn nicht mit dem „Problem Mensch“?
Ich kann jetzt einen ein wenig paradoxen Gedanken äußern: Der Sinn der Geschichte der Menschheit besteht in ihrem Therapie-Charakter. Der Mensch und die Gesellschaft benötigen ständig eine Therapie. Manchmal wurden die auftauchenden Probleme nicht erfolgreich gelöst, was dann zu Konflikten, Völkervernichtungen und dergleichen führte. Aber die Menschheitsgeschichte ist nichts als die Suche nach einer Therapie. Das sollten wir begreifen, und danach sollten wir handeln.
Wenn ich Sie so sprechen höre, muß ich zuweilen an Nikolaj Fjodorov denken, an seine Auffassung der „Geschichte als Projekt“, an seine Vorstellung von der „Sache aller“, aus der kein einziger ausgeschlossen sein darf...
Meinen Sie jetzt wirklich den Fjodorov, der die Philosophie der gemeinsamen Tat geschrieben hat?
Ja, und ich bin überzeugt, seine Vorstellung davon, daß den Menschen bisher eine sie vereinigende Aufgabe gefehlt hat, jenseits von jedweder utopistischer Programmatik, müßte heute sehr genau analysiert werden.
Aber... entschuldigen Sie, der Fjodorov war doch ganz... kirchlich-orthodox!
Aus der Sicht mehrerer Geistlicher ist er gar nicht so orthodox gewesen - vielleicht eher ein Häretiker. Dennoch möchte ich hoffen, daß seine Ideen in ihrem Wesen nichts als orthodox sind. Und ausgesprochen modern, da seine Konzeption der leiblichen Auferstehung der Toten, die durch die Lebenden - praktisch mit technisch-wissenschaftlichen Mitteln - ermöglicht werden sollte, heute nicht viel utopischer erscheint, als die Vorstellung vom künstlichen Intellekt. Und trifft es denn nicht auch mit Ihrer Vorstellung vom „Auspacken der Vergangenheit im gegenwärtigen Menschen“ auf einer bestimmten Ebene zusammen?
Wissen Sie, trotzdem scheint mir dieser Bezug auf die leibhaftige Auferstehung etwas vulgär zu sein. Schließlich sind doch sehr viele Kirchenmänner nicht bereit, ihre Lehre als Metapher zu verstehen. Das ist sehr wichtig - zu sehen, daß all das, woran wir glauben, im Grunde eine Metapher ist. „Es ist so, und doch ganz anders.“ Ich könnte jedes beliebige meiner Bücher mit diesen Worten beenden. Alles ist im Grunde nicht so - aber ein wenig eben doch. Langweilige Langeweile
Das ist meiner Ansicht nach das Wichtigste. Und wozu habe ich das Buch dann geschrieben? Um ein gewisses Sich -Aufbäumen im Bewußtsein der Menschen hervorzurufen, provozierend zu wirken. Ich glaube, daß zu viele wissenschaftliche wie philosophische - Bücher zu beruhigend wirken. Und wenn alles beruhigt ist, wird das Leben langweilig. Ach, ich kann mich jetzt nicht an die entsprechenden Worte Aleksandr Bloks erinnern; wie heißt es noch in seinen „Die Zwölf“: „Langweilige Langeweile, bitteres Leben!“
Wenn die Langeweile langweilig wird, führt das zu träger Passivität. Wissenschaft, Philosophie und Religion müssen eine emotionale Glut abstrahlen, die aus der Semantik, der Tiefe der zu behandelnden Probleme aufsteigt. Wenn die äußerste Anspannung plötzlich wegfällt, wenn plötzlich alles klar wird, ist es nicht mehr interessant.
Wann immer sich unsere Lebensbedingungen ändern, müssen auch wir uns ändern. Aber diese Flexibilität finden wir nicht in der Wissenschaft - und erst recht nicht in der Religion und der Kirche. Dort ist es noch schlimmer: Wenn zumindest einige Wissenschaftler zugeben, daß unsere Konzeptionen nicht mehr als Metaphern bedeuten, so können Theologen und Priester dies nur in den seltensten Fällen. Sie halten sich äußerst streng an alles bereits Gesagte und Formulierte. Aber das Leben hat sich doch verändert! Ich denke, daß die wesentliche Gefahr der Religion in deren Festgefahrenheit liegt. Das gibt es auch in der russischen Orthodoxie. Mit vielen Kirchenmännern bei uns in der Sowjetunion kann ich einfach nicht sprechen, weil es für mich seltsam ist, daß diese Gespräche auf die Lösung von Problemen der vergangenen Jahrhunderte zielen.
Aber die Argumentation der Kirche ist doch prinzipiell seelischer, nicht logischer Natur. Mir scheint, es handelt sich hier um ein Problem der Sprache gerade in Ihrem Sinne. Die Wörter haben eben eine polymorphe Bedeutung...
Ja natürlich, ein Sprachproblem. Das ist tatsächlich ein sehr tiefgehendes Problem. Aber es ist nicht nur das. Hier handelt es sich ebenso darum, daß die innere Anpassungsfähigkeit fehlt, die Geduld, die Fähigkeit zu sehen, daß wir zu allem, was wir uns ausdenken und tun, mit dem gebotenen Mißtrauen stehen müssen, statt ihm eine absolute Bedeutung beizumessen. Warum? Weil das Leben selbst uns dazu nötigt.
Einem anderen Kongreß-Teilnehmer, Ilja Prigogine aus Brüssel, hielt man folgendes Argument entgegen: Er sei sich dessen, was er sage, zu sicher und äußere zu wenig Zweifel an dem, was er erarbeitet habe. Mir scheint dieses Argument des mangelnden Zweifels nicht ganz angebracht zu sein; denn schließlich hätte Prigogine, wenn er sich seiner Sache nicht sicher gewesen wäre, auch keinen Vortrag zu seinem Thema halten können, oder? Müßte man nicht das Problem des Zweifels in unserer Zeit überhaupt neu formulieren?
Zweifel muß es immer geben, ungeachtet aller Überzeugtheit, natürlich. Ich muß mir, auch wenn ich mir der Resultate meiner Arbeit sicher bin, im Innern meine Zweifel bewahren.
Aber den Menschen leitet die Idee. Denn es geht ja nicht nur um diesen konkreten Vortrag Prigogines, sondern doch immer um sein gesamtes Ideenkonzept. Deshalb kann er sich Unsicherheit oder Zweifel gar nicht erlauben.
Ich möchte Prigogines Arbeitsstil hier nicht erörtern, weil ich darauf nicht vorbereitet bin. Aber auf einen Punkt möchte ich Ihre Aufmerksamkeit lenken: In einigen Rezensionen über meine in Amerika veröffentlichten Bücher fand ich die Bemerkung, daß in meinen Büchern lediglich Fragen aufgeworfen, aber keine Antworten gegeben würden. Philosophie der Fragen
Ich denke, daß jetzt eine Philosophie der Fragen, nicht der Antworten, herangereift ist. Man muß sich klar darüber sein, daß im gleichen Maße, in dem unsere Kenntnisse anwachsen, auch unser Nichtwissen zunimmt. Aber nicht etwa vulgäre Unkenntnis oder Ungebildetheit, sondern gut konstituierte Unwissenheit, die uns zwingt, neue Antworten zu suchen, uns provoziert.
Zurück zu dem, was Sie als transdisziplinär bezeichnet haben: Das Problem der Einheit scheint mir immer quälender zu werden, nicht nur für die Wissenschaftler, sondern auch für die Künstler und die Priester.
Ich behaupte sogar, daß es keine Einheit in der Wissenschaft selbst gibt. Wir haben an unserer Unversität viele Fakultäten, aber alle arbeiten getrennt voneinander. Wir haben keine Erfahrung in dieser Art von Zusammenarbeit.
Ja, wir brauchen dringend die Interdisziplinarität, aber wo konkret ist sie zu realisieren - in welcher Fakultät, in welchem Labor? Wenn ich jetzt extra ein Labor gründen würde, in dem Mathematiker, Physiker, Psychologen, Religionswissenschaftler, Soziologen, Kunstwissenschaftler zusammenarbeiten, gäbe es sofort viel Spott und Vorwürfe. Trotzdem müßte man es machen!
Ich zum Beispiel empfinde jezt sehr scharf das Ungenügende meines eigenen Wissens. Bei meiner auf das Problem der Menschen bezogenen Arbeit muß ich mich ständig an die verschiedensten Wissenschaften wenden - aber ich kann sie doch nicht alle kennen! Das führt sehr leicht zum Dilettantismus. Ganz anders wäre es, wenn ich einen Teil meiner Arbeit anderen Spezialisten anvertrauen könnte, ihrem Fachwissen und ihren Möglichkeiten - aber wie ist so etwas praktisch zu machen?
Sie sprachen gerade von einem interdisziplinären Labor; vor kurzem, bei unserem gemeinsamen Mittagessen, hat Peter Fjodorov, der Herausgeber der interdisziplinären Zeitschrift 'Analle‘, vorgeschlagen, ein Chlebnikov-Institut in der Sowjetunion zu gründen. Der russische Dichter könnte tatsächlich ein Vorbild sein für Interdisziplinarität in der Kunst wie in der Wissenschaft. Was halten Sie von dieser Idee?
Mir ist sie noch nicht ganz klar; vielleicht kann ich mir auch die Gestalt Chlebnikovs nicht deutlich genug vorstellen. Jedenfalls sollte man das neue Institut nicht nur auf einen Denker beziehen, selbst einen aus der fernen Vergangenheit. Das könnte zu Eingrenzungen führen. Wozu einen Namen? Einfach ein Institut, oder einfach ein Labor die Bezeichnung Institut kann heute manchen abschrecken.
Vielleicht eine „Familie“ von Labors, die das Problem des Menschen von interdisziplinären Standpunkten aus erforschen könnten, ohne sich dabei in irgendwelche monströsen Institutionen zu verwandeln, wo alles in der üblichen administrativen Routine ersticken würde. Sie müßten schon kompakt bleiben. Arbeiten für die Zukunft
Die Labors eines solchen Typus sollten meiner Meinung nach um einzelne Ideenträger herum gegründet werden. Wenn ein solcher Wissenschaftler da ist, muß ein Team her. Wenn die Ideen dann ausgeschöpft sind, hat auch das Labor nicht weiter zu bestehen. Man darf vor sich hin existieren, einfach deshalb, weil etwas einmal begonnen hat. Sehen Sie zum Beispiel, wie sehr jetzt das Studium Flexibilität braucht: dem Studenten, der morgen seinen Abschluß machen wird, stehen Jahrzehnte der Arbeit bevor. Und wir müssen ihn heute im Grunde darauf vorbereiten, daß er schon bald mit ganz anderen Aufgabenstellungen, Denkformen, Arbeitsmethoden, Werten konfrontiert sein wird, als mit denen, die gestern galten.
Ja, der Mensch lebt vollkommen in seiner Zeit.
Ich habe einen kleinen Aufsatz publiziert, der heißt: Vergangenheit und Gegenwart. In der Gegenwart duchleben wir unsere Vergangenheit immer wieder aufs Neue. Nicht in dem Sinne, daß wir zu ihr zurückkehren; sie ist in uns, und wir müssen damit zurechtkommen. Die Vergangenheit stellt uns ihre eigenen Aufgaben; und wir fühlen uns unbehaglich, wenn wir sie ignorieren. Und noch etwas, zum Abschluß: Die Philosophie hat jetzt zum ersten Mal einen „Engeneering„ -Aspekt erhalten.
Was hat es mit dem Problem des künstlichen Intellekts auf sich? Das Problem des Verständnisses dessen, wie der Mensch intellektuell handelt, ist ein philosophisches Problem, das eine technische Bedeutung erlangt hat. Andererseits: Beschmutzt nicht der künstliche Intellekt, bei allen Vorteilen, unsere geistige Umwelt? Sehen Sie, was wir tun: Wir haben bewußt damit begonnen, Dilettantismus einzuführen.
Früher mußte ein Wisenschaftler, bevor er beginnen konnte, ein Buch zu schreiben, einen großen Haufen Bücher lesen, irgendetwas verstehen; heute kann er am Computer Modelle konstruieren, fast ohne etwas zu wissen. Aber mathematische Modelle entstehen nicht nur aus Daten - in sie muß ein bestimmtes System von Voraussetzungen eingehen, und man muß auch richtig verstehen, um was für welche es sich handelt. Diese Voraussetzungen können sich einschleichen, ohne daß der Untersuchende sie bemerkt. Aber wenn er sie nicht realisiert, wird die Anfertigung seines Modells sinnlos sein.
Heute müssen wir uns schon überlegen, ob es mit dem Computer nicht wie mit der Chemie werden wird, die sich, wie man schreibt, in eine Todesindustrie verwandelt hat. Dieser Aspekt ist aufgetreten im Zusammenhang mit dem exponentiellen Wachstum der chemischen Industrie. Überall treffen wir auf sehr viel härtere Bedingungen, als das früher der Fall war. Das exponentielle Wachstum technischer Möglichkeiten des Eingreifens in den Naturhaushalt und die Verkomplizierung der menschlichen Beziehungen schaffen gravierende Probleme, die man nicht als esoterischen Blödsinn abtun kann. Was ist die Lösung, und zwar in nächster Zukunft? Weiß denn irgendwer, wie man auf diese Frage gut, unzweifelhaft und sicher antworten kann? Nein.
Aus dem Russischen übersetzt von Katharina Horvath
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