FEUCHTER CHINABÖLLER

■ „Die große erotische Reise“ führt nur in die Kassenhalle der Freien Volksbühne

In Knaurs Lexikon A-Z, das „Das Wissen unserer Zeit“ in einem Band bereithält, findet sich neben einer ganzseitigen Bildtafel der Tiefseefische folgende erhellende Definition: „Erotik, w. (gr.), Lehre von der Liebe; Liebeskunst; das seelisch-gefühlsmäßige Liebesleben zw. Menschen.“ Kurt Lutz und Alexander Hans Gusovius scheinen die Sache ähnlich zu verstehen. In ihrem Programmheft monieren sie, daß „der deutschen Öffentlichkeit,... der erotische Goethe kaum bekannt“ sei. Diese Wissenslücke wollte man schließen, und das möglichst „unterhaltsam“.

Also wird die Bühne ordentlich biedermeierlich vollmöbliert, mit Kanapee und Bücherregal, mit Tisch und Stuhl und Blumentisch, auf dem auch noch eine zu kleine weiße Palme in einem zu großen weißen Ikea-Übertopf steckt. Zusätzlich setzen sich fünf Musiker auf die Bühne, die während des langen Abends im flauen Scheinwerferlicht eine bühnenuntaugliche Kopf-in-den-Sand-Idee versuchen, indem sie möglichst unbeteiligt dreinschauen, um so dem Zuschauerblick zu entgehen. Dann ist der große Moment da. Kurt Lutz tritt auf, und bald weiß man, warum er seinen Namen größer drucken läßt als den aller anderen Beteiligten und Goethes - er ist der Künstler. Und der will nicht nur einmal im Leben Goethe sein und sich wie andere deutsche Hauptmänner (Gerhart) in Positur werfen, nein, da wird der kunstgewerbliche Eintopf zum Gesamtkunstwerk vereinigt. „Alle reden von der Post. Wir sind modern.“

Aus der Seminararbeit zur Karriereplanung ist ganz schnell Goethes Erotik verschwunden und der Untertitel „Wie hab ich Erfolg am Staatstheater“ an die erste Stelle gerückt. So ist auch das lästige Produkt geworden: geeignet als Entspannungshilfe für die fünf Minuten zwischen zwei Redeblöcken in der Talkshow von nebenan, statt Horst Jankowski am Klavier, aber völlig überflüssig und austauschbar wie die Styroporschnipsel im Versandpaket.

Es werden all die bekannten Posen des Genius aus Weimar nachgestellt, gelagert wie in der Campagna, jugendlich mit Hemd und Kniehose als Rückenansicht mit Zopf und leidend, mit aufgestütztem Kopf am Tisch. Und Rotwein wird so demonstrativ viel getrunken, als sei's ein Gradmesser für Genialisches (je mehr, desto), und dann wird auch noch gesungen, der Allroundkünstler tritt ans Mikrofon. Für die Vertonungen der goethischen Liebeslieder und Anzüglichkeiten ist Heinz Schreiter verantwortlich, für die gesangliche Darbietung muß man Kurt Lutz selbst in die Verantwortung nehmen. Dessen gesungenes Potpourri findet seinen exzessiven Höhepunkt in einem Imitat des ehemals skandalträchtigen Falco-Songs einer dementierten Vergewaltigung. Zu Goethes „Einst ging ich meinem Mädchen nach“ tritt die Lichtorgel in Aktion, und der obligatorische Bühnennebel im Schlafzimmer erinnert eher an einen feucht gewordenen Chinaböller oder meinen verrußten Ofen als an heraufziehende Erotik. Ehrlicherweise muß jedoch berichtet werden, daß der Alleinunterhalter den „Zauberlehrling“ sehr lustig aufzusagen wußte.

Auch wenn in der Lindenstraße jetzt ein italienischer Pizzabäcker für das Liebesglück der deutschen Frisiersalonbesitzerin zuständig ist, in der Kassenhalle der Freien Volksbühne weiß die deutsche Öffentlichkeit immer noch nicht, wohin „Die große erotische Reise“ führte. Vielleicht liegt es am Aufklärungsprogramm: „Was Sie immer schon über Goethe wissen wollten, aber sich nie zu fragen trauten.“ Wer es dennoch wissen will, lese (!) preisgünstiger als für unverschämte 22 Mark und weniger szenisch im guten Buch für Jedermann: J.W.v. Goethes „Römische Elegien“!

Susanne Raubold