: Auf der Suche nach der wirklichen Zukunft
■ „Zukunftsmetropole Berlin“: Ein Buch über die Berliner Wirtschaftspolitik / Von der Entdeckung der Forschung bis zur Arbeitslandschaft / 50 Jahre nach dem Mauerbau / Kein „Super-Strukturplan“, sondern eine „Gesamtschau“ für den „Handlungsbedarf“
Das Gedächtnis straft Diskussionen, zumal wenn sie schon ein paar Jahre zurückliegen, überaus häufig mit Vergessen - und das gilt wohl insbesondere für Debatten wirtschaftspolitischer Natur. Das hat allgemeine Gründe, etwa eine grundsätzliche Sperrigkeit dieses Themas oder das ungeheure Ausmaß von Nebel, das tagtäglich etwa in den Pressestellen von Wirtschaft, Staat und Verbänden produziert wird. Doch es gibt auch einen spezielleren Grund: Seit langem hat es in Berlin keinen intensiven Entwurf gegen die Wirtschaftspolitik des Senats gegeben, an dem mehr als ein paar Experten oder Lobbyisten beteiligt waren. Es gab Teilbereichskonzepte, etwa das der „autofreien Stadt“ oder die „Funkstörung“, doch eine breite Diskussion über die strukturellen wirtschaftlichen Probleme der Stadt fehlt, unter den Oppositionellen und Alternativen ebenso wie etwa bei den Gewerkschaften. Zuweilen entsteht der Eindruck, als habe die einst interessierte Szene der Stadt unter dem Trommelfeuer Pierothscher Erfolgsmeldungen weitgehend resigniert und sich anderen Problemen zugewandt.
Zumal, wo „das erfolgreich in Szene gesetzte 'Modell Berlin‘ deutliche Risse zeigt und zu scheitern droht“, wie Klaus Burmeister und Weert Canzler in ihrer Einleitung zum Sammelband Zukunftsmetropole Berlin schreiben. In erster Linie haben sie versucht, die historischen Wurzeln des „High-Tech-Mekkas“ freizulegen und Wurzeln wie Blüten zu überprüfen: sowohl anhand der formulierten Ziele in den Programmen, mit denen sie einst begründet wurden, als auch hinsichtlich der Defizite, die sich herausbildeten. „Keinen Super-Strukturplan“ wollen sie mit dieser Neuerscheinung aufstellen, sondern „in einer Gesamtschau den Handlungsbedarf ermitteln, um zu angepaßten und demokratisch vermittelten Lösungen zu gelangen“ - auf daß sich wieder ein unverstellter Überblick über die Wirtschaftspolitik und -landschaft dieser Stadt einstelle.
Der Rückgriff auf die Wirtschaftsgeschichte der letzten Jahrzehnte zieht sich als roter Faden durch das Buch und beginnt schon im grundlegenden Aufsatz der beiden Herausgeber über die drei aufeinanderfolgenden Phasen der Berliner Strukturpolitik von 1970 bis heute, die Kontinuitäten vom SPD- zum CDU-geführten Senat und ihre Brüche. Burmeister/Canzler zerlegen diesen Zeitraum in eine „Inventionsphase“ von etwa 1970 bis 1976, in der der Bereich „Forschung und Entwicklung“ als Element staatlicher Wirtschaftspolitik überhaupt erst erkannt wurde - dabei war die Berliner SPD, gemessen an der Entwicklung im Bundesgebiet und vor allem am jetztigen Musterländle Baden -Württemberg, damit sehr früh dran. Von 1977 bis zum Regierungswechsel 1981, unter maßgeblicher Beteiligung des damaligen Wissenschafts- und Forschungssenators Peter Glotz, folgte dann die „Innovationsphase“ mit der Umsetzung dieser Schwerpunktbestimmung in konkrete Analysen, Konzepte und Programme. Ab 1982 begann dann die „Diffusionsphase“, in der die Erfolge dieser Politik eingeheimst und zugleich ihre Grenzen deutlich wurden, die in den Arbeitslosenzahlen bis zu den Smog-Werten Monat für Monat aufs neue sichtbar werden.
Es ist dabei auch in der Rückschau immer noch verblüffend, in welchem Maße zu Beginn der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre Interessenidentitäten bestanden. So waren sich schon 1971, als die CDU noch weitgehend Erhaltungssubventionen forderte, SPD-Senat und Industrie und Handelskammer darüber einig, Berlin zum „überregionalen Dienstleistungszentrum mit internationaler Ausstrahlung“ zu machen. Ganze Passagen übernahm Wilhelm Kewenig 1982 aus den Glotzschen Zehn Thesen für eine sozialorientierte Forschungspolitik in Berlin von 1980. In einem langen Interview, das die Herausgeber mit Glotz geführt und ebenfalls im Buch abgedruckt haben, schildert der Ex -Senator, wie Pieroth ihm 1987 versichert hat: „Wir machen das weiter, was Sie hier angefangen haben.“ Und DGB-Chef Pagels räumte 1985 ein, daß auch Sozialdemokraten und Gewerkschafter keine Alternativen besäßen.
Selbstverständlich gab es Brüche, die neokonservative Wende im Modell Berlin. Während Glotz auch die „zögerlichen und rhetorischen Gewerkschaften“ (Glotz im Interview) für diesen Kurs gewinnen wollte, verzichtete Kewenig von Anfang an auf Akzeptanz bei den Arbeitnehmerorganisationen und beschränkte sich darauf, Vertrauen zwischen Staat und Industrie aufzubauen und Interesse an den von der Springer-Presse über mehr als ein Jahrzehnt diffamierten Universitäten zu wecken. Der neue CDU-Senat löste auch ein „strukturpolitisches Dilemma“ (Burmeister/Canzler) der SPD, das Autoren charakterisieren als „Nebeneinander einer sozialdemokratisch inspirierten innovationsorientierten Forschungspolitik und einer liberal geprägten Wirtschaftspolitik“. Formell sei Pieroth beim liberalen Modell geblieben, nur Rahmenbedingungen zu schaffen - inhaltlich habe er sich aber dem „staatlich induzierten Strukturwandel“ verschrieben.
Einen „wirtschaftspolitischen Flickenteppich mit durchaus attraktiven Teilen“ habe der CDU-Senat aufzuweisen, fassen sie zusammen - der aber die strukturellen Schwierigkeiten der Stadt von ihrer Abgeschiedenheit bis zur sich herausbildenden Zweidrittel-Gesellschaft nicht lösen könne. Sieben Aufsätze beschäftigen sich demzufolge mit alternativen Perspektiven der Stadt.
Sie reichen von Vorschlägen des Wirtschaftswissenschaftlers Michael Heine für eine neuerliche Novellierung des Berlin -Förderungsgesetzes über eine Untersuchung der mutmaßlichen Berliner Arbeitslandschaft im Jahr 2012 (von Jürgen Kunze) bis zur vergleichenden Darstellung der Berliner Modernisierungspolitik mit anderen Bundesländern durch den Politikwissenschaftler Werner Väth, der „eine blasse und merkwürdig profillose Mittelposition“ zwischen den beiden Polen Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen ausmacht. Und natürlich fehlt auch nicht das obligate „Plädoyer für eine ökologische Wirtschaftspolitik„; deren Möglichkeiten stellen die FHW-WissenschaftlerInnen Heidi Fichter und Rainer Knigge zur Diskussion.
Der Band lohnt die Lektüre (und auch den hohen Preis) schon wegen des Versuchs, die zahlreichen Aspekte der Berliner Wirtschafts-, Struktur- und Forschungspolitik zusammenhängend darzustellen. Endgültig gelohnt hat sich die Herausgabe aber erst dann, wenn sie wieder Streit in die trägen Diskussionen über die tatsächliche Zukunft Berlins bringt.
Dietmar Bartz
„Zukunftsmetropole Berlin. Kritik und Perspektiven wirtschaftspolitischer Leitbilder“, hg.v. Klaus Burmeister und Weert Canzler, mit einem Vorwort von Robert Jungk
Rainer-Bohn-Verlag, Berlin; 258 Seiten, 36 Mark
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