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Die Arbeit des Kopfes des Kritikers

Detlef Heusingers Oper (!) „Der Turm“ nach Peter Weiss: Die kunstvoll reflektierende Verschlüsselung der kunstvoll reflektierenden Vorlage wird kunstvoll verschlüsselt durch Inszenierung und Bühnenbild  ■  Von Mario Nitsche

Wer kennt sie nicht, diese wunderbare Szene aus dem wunderbaren Fernsehopus „Heimat“, 53. Folge, schätze ich, wo Herrmännsche als Avantgardekomponist endlich den Durchbruch schafft: Vor ihm das Sinfonieorchester des Südwestfunks, in seiner Hand der Taktstock, hinter ihm all die Kenner und Genießer und der Beinahe-Vater aus Amerika, der die unglaublich teuren Live-Elektronikmaschinen alle bezahlt hat.

Der Zuschauer merkt gleich, daß dies nicht ganz der wahre Triumph des Künstlers sein kann, doch der Regisseur Edgar Reitz - schließlich gestaltet er sein eigenes Schicksal legt gewaltig nach. In Schabbach, tieffluggefährdet, der Heimat des Jungkomponisten, versammelt sich die Dorfgemeinschaft um des Gastwirts eigens neu angeschaffte Stereoanlage. Zehn Minuten nach Beginn der Live-Übertragung ist die Wirtschaft leer. Nur einer sitzt da noch und kriecht förmlich in die HiFi-Boxen. Der Dorfdepp ist's, der

Glasisch, der da hört, erkennt, begreift, als Einziger im Sendegebiet des Südwestfunks, als Mensch.

Ich muß gestehen, ich liebe diese Szene. Sie ist groß, tief, erhaben, für mich der Höhepunkt des Filmes der achtziger Jahre (leider ist die Musik dazu entsetzlich platt). Nur: die Szene stimmt nicht. Sie spiegelt einen Wunschtraum, oder schlimmer: sie lügt sich selbst in die Tasche.

Gleichwohl beherrscht mich dieses Bild, und so saß ich denn im Parkett des Theaters am Goetheplatz und harrte der Welturaufführung des Musiktheaters (nicht der Operette, wie in dieser Zeitung behauptet und anschließend über Radio Bremen in der Welt verbreitet wurde): „Der Turm“, ein Werk des vorübergehend in seine Heimatstadt zurückgekehrten Komponisten Detlef Heusinger, und ich hoffte, ich würde der einzige im Sendegebiet von Radio Bremen sein, der hört, erkennt, begreift. Doch daraus wurde nichts. Es kam genau umgekehrt: großer Beifall beim Publikum, Ratlosigkeit beim Rezensenten.

Peter Weiss‘ literarische Vorlage zeigt, wie sich im „Turm“, in familiären und gesellschaftlichen Strukturen eingemauert, die Sozialisation des Nachwuchses vollzieht. Dieser befreit sich mittels Verarbeitung traumatischer Erfahrungen durch Kunstausübung (vgl. taz vom 24.1.89). Man kann dies alles im vorzüglichen Programmheft nachlesen.

Das Vertonen einer solchen in düsterem Nachkriegs -Symbolismus gehaltenen Vorlage macht Sinn, wenn Musik entschlüsselt, Erkenntnisprozesse über den Mechanismus des „Turms“ initiiert. Detlef Heusingers sorgfältig gearbeitete, vielschichtige und hörenswerte Partitur tut genau das Gegenteil: Sie will über den Kopf wirken.

Doch die Dichte musikalischer Informationen führte bei meinem Kopf zur Verweigerung der Mitarbeit: Der Dorfdepp hat keine Rezeptionschance. Mir fehlte der Einstieg übers emotionale Erleben, obwohl der Einsatz guckkastensprengender Live-Elektronik darauf zu zielen schien. Es baute sich zu selten eine erkenntnisfördernde Beziehung zum musikali

schen Geschehen auf.

Die Inszenierung hilft dem nicht ab. Heusingers kunstvoll reflektierende Verschlüsselung der kunstvoll reflektierenden Vorlage wird kunstvoll verschlüsselt durch die Arbeit des avantgardeerfahrenen Elmar Gehlen. Visuell eindrucksvoll, Verdopplungen und Kontrapunkte ermöglichende Spiegeleffekte und eine artifizielle, ins artistische reichende Personenführung verstärken den oben beschriebenen Effekt auf den Kopf der Rezensenten. Ich habe mich denn geflüchtet in den Genuß der Farb-und Formspielereien des Bühnenbilds und die eigentümlich fremd-vertrauten Reize der Musik. Der Inhalt ging mir durch die Lappen.

Das stimmt mich traurig; so traurig wie den depressiven Prinzen in Prokofjews „Liebe zu den drei Orangen“. Auch deswegen, weil das ausgezeichnete Sängerensemble so konzentriert und engagiert zu Werke geht.

Sorgfältige Arbeit läßt sich auch bei den Musikern auf der Bühne und im Graben unter Bernbachers Leitung diagnosti

zieren. Trauer insbesonder deshalb, weil allem intellektuellen und artistischen Aufwand zum Trotze und trotz „musica nova“ und Radio Bremen die Moderne Musik in unserer Stadt dort bleiben wird, wo sie immer war: im Turm. Vielleicht versucht Heusinger doch einmal die Sprengung desselben und komponiert mit all dem Können und Wissen, über das er reichlich verfügt, eine Operette.

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