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Perestroika-Befürworter nutzen Wahl-Wirrwarr

■ Sacharow, Korotitsch und Jelzin wurden im letzten Moment für die Wahlen zum Kongreß der Volksdeputierten nominiert / Großes Engagement bei der Moskauer Bevölkerung / Andrej Sacharow kritisiert das Wahlverfahren als einen komplexen Mechanismus, der jede Menge Fallgruben enthält

Moskau (afp/ap) - Buchstäblich im letzten Moment hat es Vitalij Korotitsch, der wegen seines Reformeifers vom rechten Parteilager befehdete Chefredakteur der Zeitschrift 'Ogonjok‘, geschafft. Am Dienstag abend, nur wenige Stunden vor Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen Frist, wurde er mit der überwältigenden Mehrheit von 782 Stimmen zum Kandidaten des Moskauer Bezirks Dserschinski für den Kongreß der Volksdeputierten gewählt. Seine Gegenkandidaten, ein Fabrikdirektor und der Chefarzt einer stets überfüllten Klinik, erhielten 145 bzw. ganze vier Stimmen. Trotz schneidender Kälte hatte sich schon Stunden vor Beginn der Wahlveranstaltung eine endlose Schlange vor dem Gewerkschaftsgebäude des Bezirks gebildet. Keiner der Wartenden wußte genau, ob hier tatsächlich die Wahlen abgehalten würden - doch niemand wollte die Wahl verpassen, falls sie denn tatsächlich stattfinde. Auskünfte der Saalhüter, die Veranstaltung habe bereits begonnen und lediglich einer von Korotitschs Gegenkandidaten sei dort anwesend, provozierten lautstarke Rufe nach Einlaß.

Die Unruhe unter den Wartenden wuchs, als sich ein Grüppchen der ultra-nationalistischen russischen Pamjat -Bewegung bemerkbar machte, die Korotitschs Kandidatur bei dessen ersten Anlauf verhindert hatte. Die Wortgeplänkel wurden schließlich unterbrochen, als man der Menge zusicherte, wegen des großen Andrangs nun sogar zwei Säle zu öffnen und Monitore für die Übertragung der Podiumsdiskussion zur Verfügung zu stellen. Dabei war Korotitsch selbst bei der Veranstaltung gar nicht anwesend. Ihn vertraten gleich drei geachtete Bürgen der Glasnost -Politik: Der Dichter Jewgenij Jewtuschenko, der Augenarzt Swjatoslaw Fjodorow und der Schriftsteller Ales Adamowitsch erkämpfen an diesem Tag die Kandidatur des 'Ogonjok'-Chefs.

Und doch muß Korotitsch noch eine Hürde nehmen, bis er Ende März im Parlament sitzen kann: Der Wahlausschuß seines Bezirks muß jeden Kandidaten offiziell zulassen. Wer diesen Wahlausschüssen angehören darf und warum, wie die Bedingungen für die Zulassung der Bewerber aussehen, ist in den neuen Paragraphen des UdSSR-Wahlrechtes noch nicht kodifiziert. Sogar Akademiemitglied Andrej Sacharow, der sich um die Aufklärung dieser Frage bemüht hat, blieben die einschlägigen Vorschriften ein Buch mit sieben Siegeln. In einem gestern in der 'Süddeutschen Zeitung‘ veröffentlichten Interwiew bezeichnet er denn auch die Wahlbestimmungen als „komplexen Mechanismus, der eine große Zahl von Fallgruben enthält“. Die Wahl sei „nicht demokratisch“ und hänge von „keinerlei formalen Kriterien ab“. Sacharow, der fürchtet, daß bald konservative Kreise Gorbatschow „seine Ansichten diktieren“ könnten, konstatiert: „Die einzige wirkliche Waffe des Staatschefs sind direkte Wahlen. Wovor hatte Gorbatschow Angst? Ich notiere nur, daß sich dasselbe im vorigen Juni abgespielt hat, als es darum ging, Delegierte zur Parteikonferenz zu schicken. Leute, die den progressiven Ideen a la Glasnost ablehnend gegenüberstanden, wurden bevorzugt.“ Die Mauscheleien gleichen sich, doch die Reihen der Reformbefürworter haben sich inzwischen geschlossen. Nicht nur, daß Sacharow selbst trotz massiven Widerstands in der Akademie der Wissenschaften als Kandidat eines Moskauer Physikinstituts durchgeboxt werden konnte, auch das Oberhaupt der armenischen Kirche, Katholikos Vasgen I., und vier Mitglieder des Karabach-Komitees haben diese erste Stufe genommen. Der ehemalige Moskauer Parteichef Jelzin, der im Herbst '87 gestürzt wurde, kann sich gleich zwischen zehn sowjetischen Städten entscheiden, in denen er als Kandidat fröhliche Urstände feiert. Jelzins Popularität ist noch gewachsen, weil er den geplagten sowjetischen Verbrauchern als Vorkämpfer gegen Wirtschaftskorruption und organisiertes Verbrechen gilt.

Zur ökonomischen Situation vor den Wahlen gab am Mittwoch Leonid Abalkin, Wirtschaftsberater von Michail Gorbatschow, bekannt: Ganz überraschend seien die Binnenwirtschaft und das Währungssystem außer Kontrolle geraten. Die ursprünglich für das Frühjahr geplante Preisreform sei „aus finanziellen wie auch aus politischen“ Gründen im Moment nicht zu verwirklichen. Zuerst müsse man dem Haushaltsdefizit beikommen, mit Ausgabenkürzungen und „Konzentration auf Unternehmungen, die kurzfristig Gewinne abwerfen“. Abalkins bezeichnet diesen Kurs als „neue Taktik“. Nach den Wahlen, so hat Gorbatschow angedeutet, ist für weitergehende Reformen immer noch Zeit. „Niemand weiß, worauf wir zugehen, aber wir haben keine andere Wahl als die Perestroika“, meint Sacharow.

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