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Russischer Bär in der Höhle des Löwen

■ Gorbatschows Umweltberater debattierte in Lüchow-Dannenberg mit der Anti-AKW-Bewegung

Manche der TeilnehmerInnen hatten das Gefühl, einem „historischen Ereignis beizuwohnen“: Für fünf Tage war eine sowjetische Delegation Gast am traditionsreichen Kampfplatz der Anti-AKW-Bewegung. Das Treffen hatten die Grünen bei einer Moskau-Reise ausgehandelt. Angeführt von Gorbatschows persönlichem Referenten für Umweltfragen, Iwan Frolow, sind sie nun tatsächlich gekommen. Höhepunkt war am Freitagabend eine öffentliche Veranstaltung unter dem Motto „Tschernobyl

-schon vergessen?“

Das Gildehaus in Lüchow ist ein geschichtsträchtiger Ort. „Warst du damals bei der Aktion mit den Särgen auch dabei?“ forscht, in Erinnerungen schwelgend, mein Begleiter, der Fotograf Günter Zint (dessen Fotos die „Eilzustellung“ der Bundespost leider nicht rechtzeitig brachte, die Red.). „Und als die falschen Theaterpolizisten mit richtigen verwechselt wurden?“ Oder als die DWK auf der Anhörung zum Zwischenlager so fertiggemacht wurde: ach, war das schön.

Doch diesmal sitzen vor grünem Bühnenvorhang nicht die sattsam bekannten Nuklearvertreter der Deutschen Gesellschaft zur Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen (DWK), die das ländliche Volk hier schon zehnmal niedergetobt und mit Konfetti und Tomaten beworfen hat, sondern leibhaftige Russen. KPdSU diskutiert mit BI Lüchow -Dannenberg? Russischer Bär ernährt sich nur noch strikt von Kreide? Internationale Atommafia nutzt rote Fahne als Tarnschleier? Und dann gleich auch noch zwei so besondere Exemplare: Iwan Frolow einerseits, Gorbatschows persönlicher Berater für Ökologie, dem man bei solch einem Titel spontan nur das Beste zutrauen möchte; Jewgeni Ignatienko andererseits, hoher Beamter des Atomministeriums, ein kalter Atom-Technokrat. Vom ersten Moment an ist dem kampferprobten Publikum, ein halbes Tausend Leute im völlig überfüllten Gildehaus, die Verwirrung anzumerken, die sich in der Hitze des Abends noch steigert.

Tschernobyl, das sei „eine triste, traurige Erinnerung und eine Lehre für uns“, beginnt Iwan Frolow. So viele Länder, auch die Bundesrepublik, seien in Mitleidenschaft gezogen worden, und „wenn wir eine einheitliche Familie des Menschengeschlechts sind, dann gilt es, miteinander zu sprechen und einander zu verstehen“. Klingt gut, klingt so richtig nach Gorbatschow, findet das Publikum. Doch manche Nachsätze schleichen sich von hinten an: „Tschernobyl hat nicht dazu geführt, daß wir auf den Atomsektor verzichten wollen“. Herr Ignotienko ist die Verkörperung dieses Beschlusses. Der schwere Mann mit den grauen Stoppelhaaren spricht von seinem Einsatz am Katastrophenort so, als habe er dorthin eine Forschungsexpedition unternommen: „Es war drei Uhr morgens, als ich von dem Unfall erfahren habe. Mit einem Flugzeug startete unser Team in Richtung der Stadt Privjat. Die Situation dort war ziemlich akzeptabel, erstaunlicherweise, und so begannen wir mit der Beobachtung des verunglückten Blocks.“

Immerhin habe der Unfall dazu geführt, daß viele Atomkraftwerke „modernisiert“ worden seien. Ignatienko schließt im Brustton der Überzeugung: „Jetzt können wir die Anlagen bauen, die die Sicherheit der Bevölkerung garantieren!“ Aiii, heult es vielstimmig im Saal auf. Ist das die „Begegnung der ganz besonderen Art“ mit dem Abgesandten des großen Reformators, von der Jutta Ditfurth, ebenfalls auf dem Podium, spricht? Oder sind das nicht gerade die bis zum Trommelfellcrash gehörten Worte hiesiger Politokraten?

Ein ländlicher Autonomer wagt es, dieses Wasser auf seine Mühlen zu leiten. „Diese Leute sind knallharte Betreiber“, klappert er, „und unterscheiden sich nicht von der DWk. Man sollte sie mit Mehltüten bewerfen und aus dem Sall werfen“. Dünner Beifall , Unruhe im Saal und Buuuh, Buuuh. „Nein“, greift hierJutta rettend ein, „das sind schon kompliziertere Fronten hier“. Sie halte es für sinnvoller, so viel Druck wie möglich auszuüben, damit die antiatomare Position in der Sowjetunion gestärkt werde.

Irritiert schauen inzwischen auch die sowjetischen Gäste, sie fühlen sich unverstanden. Offenbar hat man sie nicht genügend darüber aufgeklärt, daß dieses Gorlebener Völkchen Fachkompetenz, Verve und Wut in unterschiedlich kultivierten Stadien besitzt. Auch die Fragen, die nun folgen, sind in zwölf Jahren Kampf gegen die Atomanlagen von Gorleben wahrscheinlich öfter gestellt worden als in vier Jahren Perestroika: „Welche Grenzwerte bei Lebensmitteln gibt es in der Sowjetunion?“ „Ist es nicht an der Zeit, daß kein einziges Gramm Plutionium mehr erzeugt wird?“ „Wenn Sie die Atomraketen vernichten, was machen Sie mit den radioaktivem Potential?“ „Wir können hier nach Tschernobyl 20 Jahre lang keine Pilze mehr essen, wollen sie das etwa bezahlen?“

Iwan Frolows Gesicht zeugt ganz und gar nicht von Glück. Statt präziser Antworten gibt er sich selbst einen Rat: „Ein Mann muß in den unterschiedlichsten Situationen ruhig bleiben.“ Und der Atomtechnokrat Ignatienko hat gar die Stirn zu erklären, er könne die derzeit geltenden Grenzwerte nicht aus dem Gedächtnis nennen. „Da kann ich Ihnen helfen“, ruft Rebecca Harms von der BI Lüchow-Dannenberg, die vor einigen Monaten in Tschernobyl weilte. 500 Becquerel pro Kilogramm und Liter, genau wie in der EG.

„Wenn Sie sich mit Experten beraten wollen“, warnt auch eine andere Frau von der Bürgerinitiative die ausländischen Gäste, „dann tun Sie das bitte nicht mit der bundesdeutschen Atomindustrie. Reichen Sie nicht dem Teufel die Hand. Hinter dem ist in vielen Fällen der Staatsanwalt her...“

Ute Scheub

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