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SPD auf der Suche nach der Mehrheit

■ Nach der ersten Überraschung peilen die Sozis nun einen Minderheitssenat an

Große Koalition: Nein danke. Mit diesem Tenor laufen zur Zeit die Überlegungen innerhalb der Berliner SPD, was aus dem für die Opposition so überraschend guten Wahlergebnis zu machen sei. Da gegen eine direkte Koalition mit der AL in den beiden Parteien noch erhebliche Vorbehalte bestehen, soll erst einmal eine Zwischenlösung eingeschoben werden: SPD-Minderheitsregierung und Verhandlungen mit der AL, um zu einer Tolerierung zu kommen. Probezeit für eine spätere Koalition? Die Alternativen hatten der SPD bereits vor der Wahl ein Angebot zur Zusammenarbeit unterbreitet.

Man tritt sich nachhaltig auf die Füße im SPD-Zelt an der Müllerstraße. Niemand scheint an diesem Wahlabend Schmerz zu spüren. „Rot-grün, rot-grün, rot-grün“ rufen Hunderte, mit Inbrunst. Auf der Bühne kämpft der Moderator, läßt die Kapelle einen Tusch spielen, „denn auf rot-grün, da hört er offensichtlich nicht druff. Wollen wir's mal mit Walter, Walter probieren?“ Nein, darauf reagiert die Menge nicht, also quetscht sich SPD-Chef Walter Momper unter „Rot-grün„ -Rufen zum Podium.

Küßchen von den Genossen, ein Blick auf den Steno-Block. Dann versucht der „siegreiche Mann des Abends“ (Moderator), sich verbal durchzusetzen. Die anhaltenden Zwischenrufe kontert er mit dem Satz: „Es geht nicht weiter mit einfachen Formeln. Jetzt brauchen wir den Gehirnschmalz und die Disziplin von allen.“

Diese Worte zu hören, ist SPD-Mitglied und Gewerkschafter Gerhard Lutter (50) nicht gekommen. Zusammen mit seinem Sohn hat der Filialleiter sich „spontan in die U-Bahn gesetzt, um hier Druck für die Realisierung der linken Mehrheit zu machen“. Daß die meisten im Zelt so denken, machen sie mit ihren Sprechchören deutlich. In Einzelgesprächen votiert niemand für eine große Koalition von SPD und CDU. „Die passen nicht zu uns. So einfach ist das“, meint Fleischer Hans Klein aus dem Wedding.

Nachdem Momper die höchste Konkretionsstufe seiner Überlegungen zum neuen Senat erreicht hat - „ja, Innensenator Kewenig muß weg“, ziehen er, der geschäftsführende Landesvorstand und Bundesvorsitzender Hans -Jochen Vogel sich zurück. Vor der verschlossenen Tür von Zimmer 401 erscheint plötzlich eine abgehetzte Delegation der „Abteilung 6“ der SPD aus Schöneberg. Von ihrer Wahlfete am Winterfeldplatz in den Wedding gerast, begehren die Parteimitglieder Einlaß, um Momper einen Brief zu übergeben. In dem Schreiben äußern sich die GenossInnen „schlicht entsetzt“ über Mompers Liebäugeln mit der großen Koalition bei seinem Fernsehauftritt. Die Genossen der Abteilung, so Kassierer Ewald Boot, „haben sich nicht zwei Jahre Frostbeulen geholt, um jetzt unsere Chance zu versieben. Es gibt kein Mandat für die große Koalition, die nur die Republikaner stärken würde“.

Doch die Tür bleibt zu. Eisern schiebt Mompers Fahrer, Axel Timm, Wache. Er glaubt, daß „die da drin erstmal schwer nachdenken müssen. Eine Lösung sehe ich nicht.“ Für eine Koalition mit der AL sei er nicht, „die haben ja nicht der Gewalt abgeschworen“ - aber die CDU ist ihm „auch nicht sympathisch“. Und die eindeutige Stimmung im Zelt findet Timm so eindeutig nicht. Vielmehr scheint sich da unten ein Stoßtrupp der AL versammelt zu haben. Dafür hat Axel Timm, seit elf Jahren Fahrer für die SPD, Beweise: „Ich kenne die meisten Genossen, aber da im Zelt kannte ich die wenigsten.“

Hans-Jochen Vogel auch nicht. Dem abends Eingeflogenen scheint Berlin so fremd, daß er im Zelt „meist nur Jochen, Jochen gehört“ hat. Im übrigen, so der SPD-Bundesvorsitzende nach der Landesvorstandssitzung zur taz, „wird bei uns Politik nicht durch Zurufe entschieden“. Daß Herr Vogel in Berlin nicht nur Walter Momper küssen wollte, liegt auf der Hand, aber er bestreitet es vorsichtig: „Die weiteren Entscheidungen sind eine ureigene Berliner Angelegenheit. Ich werde mich hüten über die Medien einen Rat zu geben.“

Am Montag vormittag zeichnen sich erste Konturen für die Koalitionsgespräche ab. Einen von der AL tolerierten SPD -Minderheitssenat favorisierten gestern auch rechte Sozis. Sie können die „Stimmungslage für rot-grün“ nicht ignorieren. „Momper ist ja genauso überrascht worden von dem Wahlergebnis, wie alle anderen“, erläuterte ein SPD -Vorständler gestern den sanften Kurswechsel. Die Tolerierung war unter den drei Möglichkeiten offenbar die attraktivste, die der geschäftsführenden Landesvorstand gestern am frühen Morgen diskutierte.

Eine große Koalition, so die Stimmung in der SPD, würde nicht nur AL und „Republikaner“ weiter stärken, sie würde auch „der SPD das Genick brechen“. So äußerte sich gestern Michael Barthel vom linken Kreisverband Schöneberg, ähnliches sagte aber auch Marianne Brinckmeier, eine Wortführerin des rechten Flügels zur taz.

Im Falle von Neuwahlen, die letzte der Optionen, muß die Berliner SPD den „Hamburg-Effekt“ fürchten: Der alte Bürgermeister wird wieder der neue, nur hieße der in Berlin nicht Dohnanyi, sondern Diepgen. Die Akzente setzten Linke und Rechte gestern dennoch unterschiedlich. Die SPD-Linke will in der Tolerierungsphase „zügig“ auf eine Koalition zumarschieren, die Rechte sieht in einer künftigen SPD-AL -Koalition nur eine von mehreren möglichen Konsequenzen. Parteichef Momper muß dennoch nicht sein Gesicht verlieren. Die von ihm markierten Hürden - das Verhältnis der AL zu den Alliierten, dem Bund und der Gewalt - werden als Probleme anerkannt. Die SPD-Linke ist zuversichtlich, sie in Verhandlungen zur Seite räumen zu können. Auf keinen Fall soll der AL zugemutet werden, vorab Bekenntnisse abzulegen. „Das muß sich in Verhandlungen klären“, bestätigt Frau Brinckmeier.

Petra Bornhöft/Hans Martin Tillack

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