Journalismus in Italien - reine Glückssache?

Machtkampf in Italiens Presselandschaft: Die Wahl der Waffen fiel aufs Glücksspiel / 'Corriere della Sera‘ verdoppelte mit einem „Bingo„-Ableger innerhalb einer Woche die Auflage und übernahm wieder die Spitze / Journalisten werden dabei tendenziell überflüssig  ■  Aus Rom Werner Raith

„Die Sache“, sagt Rechtsanwalt Samuele Colombo aus Ferrara, „war die: Man mußte nur ein Spiel erfinden, das leichter zu verwirklichen ist als das der Konkurrenz - und das die Italiener an einer ihrer speziellen Leidenschaften packt.“ Beides ist ihm gelungen - freilich mit eher zweifelhaften Konsequenzen für einen ganzen Berufsstand: den der Journalisten.

Erfunden hat der schlaue Advokat „Replay“: täglich rückt die Tageszeitung 'Corriere della Sera‘ vier Nummern ein, die den Kennziffern auf den Losen der staatlichen Lotterien entsprechen. Gewinn: zehn Millionen Lire, umgerechnet knapp 14.000 Mark. Der Clou: Es nehmen daran auch Lose teil, die beim Staat nichts gewonnen haben. Ihre Besitzer können nun tagtäglich noch mal - „Replay“ - auf nachträglichen Gewinn hoffen. „Eine genial einfache Idee“, wie der Leiter des Konkurrenzblattes 'La Repubblica‘, Eugenio Scalfari, neidvoll zugibt. Denn nichts ist in Italien so beliebt wie das Glücksspiel: 38 Millionen Lose gehen jährlich über den Tisch, an den Tagen nach den Ziehungen sind die Zeitungen bereits gegen halb sieben Uhr morgens ausverkauft. Der 'Corriere‘ hatte richtig kalkuliert; von einer bisherigen Tagesauflage von gut 570.000 (samstags 750.000) schnellte der Verkauf innerhalb von drei Tagen auf 1,3 Millionen hoch. Die Mailänder Zeitung hielt plötzlich wieder die Spitzenstellung im italienischen Journalismus, die ihr die in Rom erscheinende 'La Repubblica‘ vor zwei Jahren mit einer Tagesauflage von 660.000 (freitags gar eine Million) weggeschnappt hatte. Das hatten die römischen Aufsteiger ('La Repubblica‘ ist erst gut zehn Jahre alt - der 'Corriere‘ 116) ihrerseits mit einem Leserspiel geschafft: Seit Ende 1986 gibt es „Portfoglio“ - ein Spiel mit einem „persönlichen Ausweis“, auf dem acht Zahlen jeweils Börsenaktien bezeichnen, aus deren Kursdifferenzen zum Vortag sich die jeweilige Gewinnzahl errechnet. Gewinn: 5.000 Mark täglich, am Sonntag 10.000 Mark. Offenkundig hat nun aber die viel einfachere Spielweise beim 'Corriere‘ „Portfoglio“ den Rang abgelaufen. Kein Wunder, daß die römischen Blattmacher Gift und Galle spucken - die Mailänder haben die Römer mit deren eigenen Waffen geschlagen.

In den Hintergrund gerät bei alledem freilich die Frage, was aus dem Journalismus selbst wird, wenn man Auflagen nicht mehr durch den Zeitungsinhalt erzielt, sondern Leser durch Glücksspiele regelrecht kauft - „Ich lese nicht, ich spiele“, überschrieb 'Panorama‘ seine Titelgeschichte zum Zeitungskrieg.

Experten rätseln, wer die neuen „Leser“ denn sind - wo die Antwort wohl ganz einfach ist: „Keine Leser“, stellen nahezu alle Kioskverkäufer fest, „sondern schlichte Losbesitzer, Bauern aus den Abruzzen, Hilfsarbeiter; Leute, die sonst kaum einmal eine Zeitung in die Hand nehmen.“ Tatsächlich hat auch keine einzige Konkurrenzzeitung des 'Corriere“ bisher nennenswerten Auflagenschwund zu beklagen - 'La Repubblica‘ meldet gerade zwei Prozent, 'La Stampa‘ aus Turin hat, obwohl derzeit eine der wenigen Zeitungen ohne Spiel, sogar um sechs Prozent zugelegt.

Das „Hasardspiel um den letzten Leser“ ('L'Espresso‘) könnte eine der erfreulichsten Erscheinungen der italienischen Öffentlichkeit nachhaltig schädigen - die bunte Vielfalt des täglichen Journalismus. Nirgendwo in Europa gibt es so viele verschiedene Tageszeitungen, werden oft in ein- und derselben Zeitung so viele unterschiedliche Meinungen gedruckt wie hier. Die Auflagen können sich trotzdem sehen lassen. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik kommt die 'Süddeutsche Zeitung‘ auf gerade knappe 375.000 Exemplare, die 'Frankfurter Allgemeine Zeitung‘ hängt bei 350.000; beides gilt schon als Top-Auflage. In Italien gibt es mehr als ein halbes Dutzend Zeitungen mit höherer Auflage als die 'SZ‘.

Zweierlei fehlt allerdings im Vergleich zur BRD in Italien völlig: es gibt keine Boulevardzeitung - dafür aber enorm auflagenstarke Sportzeitungen, deren größte auf mehr als fünf Millionen Tagesverkauf kommen. Und es fehlt zweitens die bundesdeutsche Fiktion der „Unabhängigkeit“. Jeder, der in Italien eine Zeitung kauft, weiß, wo sie steht: der 'Corriere della Sera‘ in der liberalen Mitte, 'La Repubblica‘ nahe den Sozialisten, 'Il Messaggero‘ war jahrelang linkssozialistisch, ist mittlerweile aber auf einen Kurs zwischen Sozialisten und Christdemokraten gegangen, 'Il Mattino‘ gilt als Sprachrohr von DC-Chef De Mita, 'La Stampa‘ gehört der Fiat-Familie Agnelli, 'Il Giornale‘ wird vom ehemaligen Mussolinifan Indro Montanelli auf rechts gehalten, 'IL Manifesto‘ sammelt alte 68er, PCI -Dissidenten und Grüne.

Auch Kursänderungen werden den Lesern schnell deutlich beim beliebten Rochade-Spiel der italienischen Politiker rotieren oft auch die Chefredakteure mit, das Blatt wechselt Farbe.

Daß sich durch die „Totalkommerzialisierung der Information“ ('Il Manifesto‘) die bisherige Buntheit im italienischen Blätterwald wandeln könnte, befürchten nicht nur Profis wie der ehemalige 'Corriere'-Chef Piero Ostellino: „Der Erfolg von 'Replay‘ zeigt, daß im Grunde Journalisten in einer Zeitung bereits überflüssig sind - es kommt nur auf die Public Relations an.“ Tatsächlich spielt die neue Marktstrategie „Auflage durch Spiele“ schon kräftig in die Zeitungsarbeit hinein. Beim 'Corriere‘ mußte der Redaktionsschluß um volle zwei Stunden vorgezogen werden, um den Druck der verdoppelten Auflage zu ermöglichen. Nicht nur die Aktualität ist damit gefährdet, auch die Zeit für korrekte Recherche fehlt immer mehr. Und dabei hat sich das Niveau durch immer hastigere Berichterstattung sowieso schon kräftig gesenkt. Die Gefahr eines „Todes des Journalismus durch Spiele“ erkennt man mittlerweile auch in den Zeitungen. Und so denken 'Corriere‘ und 'Repubblica‘ nunmehr an einen Stillhaltevertrag - wenn Mitte 1989 der derzeitige Zyklus ausläuft, will man keine weiteren Spiele mehr durch führen.