: In Bremen läßt sich's gut leben
■ Voraussetzung: Ein Mann muß man sein und Arbeit haben / 1988 in den Zahlen der Statistiker / Wirtschaft boomt im Bundesschnitt / An der Arbeitslosigkeit ändert sich nichts / 4.600 neue BremerInnen, vor allem aus dem Ausland
„Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe“, sagte vor vielen Jahren einmal Gustav Heinemann. Nun wird man den fünf Herren des statistischen Landesamtes, die gestern Bremen den jährlichen Zahlenspiegel vorhielten, Fälschung nicht nachsagen dürfen, doch der Jahresrückblick belegt zumindest eins: Die Addition vieler Daten aus allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen muß noch lange nicht mit der allgemein wahrgenommenen gesellschaftlichen Realität übereinstimmen.
Bremen hat doppelt so hohe Arbeitslosenzahlen wie im Bundesdurchschnitt, mehr als 40.000 SozialhilfeempfängerInnen, völlig zerrüttete Staatsfinanzen, die die politischen Handlungsspielräume auf ein Minimum reduziert. Wohl wahr. Aber Bremen hat auch eine Wirtschaft, die langsam aber sicher in Schwung kommt. Um mehr als drei Prozent liegt die in Bremen erwirtschaftete „gesamtwirtschaftliche Lei
stung“ über dem Niveau des Vorjahres. Es boomt überall: Der Hafen vermeldet ein Rekordergebnis (zum ersten Mal wurden mehr als 30 Mill. Tonnen umgeschlagen), Einzelhandel und Gastgewerbe legen zu, die BremerInnen leisten sich mehr Autos (pro tausend Einwohner 454, 13 mehr als im Vorjahr). Es gibt 4% weniger Konkurse (234) und auf den Sparkonten liegen rund 200 Mio Mark mehr als '87.
Nicht nur der Wirtschaft, auch den BremerInnen geht es statistisch gesehen finanziell gut, „vorausgesetzt sie sind männlich und haben Arbeit“, so der Leiter des Statistischen Landesamtes Volker Hannemann. Männer in Angestelltenberufen verdienen durchschnittlich 4.643 Mark, Arbeiter 833 Mark pro Woche. Das höchste Lohnniveau in der Bundesrepublik nach Hamburg, sagen die Statistiker. Anders bei den Frauen. Diese verdienen als Angestellte im Schnitt 2.940 Mark, als Arbeiterin nur 557
Mark pro Woche. Besonders auffällig der geringe Anteil von Arbeiterinnen. Sind es im Bundesdurchschnitt 20 Prozent, so liegt der Anteil in Bremen bei nur 10, eine Folge der nach wie vor hohen Arbeitslosigkeit. 42.226 BremerInnen waren im Jahresmittel ohne Beschäftigung, noch einmal 553 mehr als 1987. Mehr Umsatz, weniger Beschäftigung zum Beispiel im Handwerk. Umsatzsteigerungen von 9,4 % wurden von 0,8 Prozent weniger Beschäftigten erarbeitet.
Die StudentInnen können ihren Protest jetzt auch mit knallharten Zahlen begründen. An den fünf Bremer Hochschulen sind seit dem Wintersemester 1988/89 17.820 Studenten eingeschrieben. Allein an der Uni stieg die Zahl der StudentInnen von 9.847 auf 11.160. Der Anteil der Studentinnen liegt nach wie vor bei 39,1 Prozent. Die Vorlieben der StudentInnen haben sich nicht geändert. An der Hochschule für Kunst und Musik sind 56 Prozent
der StudentInnen weiblich, wenn es technisch wird, ist nur noch etwa jede fünfte StudentIn eine Frau.
Im letzten Jahr ist das Land Bremen statistisch um einen Ortsteil größer geworden. Nach Jahren des Bevölkerungsrückgangs lebten 1988 4.600 Menschen mehr als im Vorjahr in Bremen und Bremerhaven. Dabei ist Bremen ein Stück internationaler geworden. Der Anteil der Deutschen ist dabei um 2.780 gesunken, 7.470 Ausländer und Aussiedler kamen dazu, die meisten aus Polen, Jugoslawien, der Türkei und der Sowjetunion. Internationaler geht es auch in den Schulen zu, besonders in den Grundschulen. In den 1. Klasse ist jedes sechste Kind nicht in der Bundesrepublik geboren.
Wirtschaftspolitiker dürfen sich über das Jahr 1988 also freuen, Bildungs- und Sozialpolitiker ratlos bleiben. Was ganz besonderes aber ist für konservative Familienpolitiker dabei. Die Bre
merInnen drängt es immer häufiger zum Standesamt und seltener zum Scheidungsrichter. Die Zahl der Eheschließungen ging um 4.220 nach oben, die Zahl der Scheidungen um 200 auf 2.050 herunter. Und Rentenberechner müssen einen neuen Langzeittrend berücksichtigen: In Bremen
wurden 1988 etwa 600 Babys mehr als im Vorjahr geboren (6.360), und 3% mehr Todesfälle (8.720) registriert. Fazit der Statistiker in diesem Falle: „Der Saldo der Sterbefälle gegenüber den Geburten fiel damit um 350 geringer als im Vorjahr aus“.
hbk
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