: Nie mehr Liebe
■ Ruth Berlau, 1906 in Kopenhagen geboren, Schauspielerin und Erzählerin. 1933 Freundschaft mit Bertolt Brecht. Sie dokumentierte seine Theaterarbeit. 1974 starb sie in Berlin (DDR). Hier Auszüge aus ihrer 1940 in Dänemark veröffentlichten Erzählung „Nie mehr Liebe“. Im Persona-Verlag erscheint demnächst die erste deutsche Ausgabe ihrer Geschichten.
Ruth Berlau
Aauf dem Hof war ein Stallknecht, der Nicolaysen hieß. Nicolaysen war ein ernster Mann in sauberen, aber schlecht sitzenden Kleidern und mit dreiunddreißig Wintern auf dem Buckel. Nicolaysen war sehr geschickt, und als Karen Marie Alvilda auf dem Speicher einen alten Stuhl fand, den sie gut in ihrem Zimmer gebrauchen konnte, ging sie zu Nicolaysen und bat ihn, den Stuhl zu reparieren.
Er brachte den Stuhl auf ihr Zimmer, stellte ihn hin und ging rückwärts aus der Tür, bevor sie Zeit fand, ihm zu danken.
Am Abend besuchte sie ihn deshalb in seiner Stube. Er war damit beschäftigt, seinen Tabak zu mischen. Er saß am Tisch, vor sich hatte er eine Blechdose und eine Papiertüte. Er nahm aus jeder eine Handvoll Tabak und mischte beide Sorten sorgfältig. Er hatte große, schwere Hände, und es war schön, sie so bedächtig arbeiten zu sehen. Das Ganze kam schließlich in eine braune Holzdose, die sorgfältig verschlossen wurde. Ab und zu schielte er zu Karen Marie Alvilda hinüber, sie schaute ihm lächelnd zu. Das irritierte ihn offensichtlich. Er stand auf und holte seine Pfeife vom Nachttisch, zündete sie umständlich an, blieb stehen und schaute aus dem dunklen Fenster. Er stand halb von ihr abgewandt und hatte noch kein Wort gesagt, nur etwas gebrummt, als sie gesagt hatte, daß die braune Tabaksdose schön sei. Sie hätte sich gern zu einem kleinen Schwatz gesetzt, aber er schien das nicht zu merken. Vermutlich war er ein Mann mit festen Gewohnheiten, der jetzt ungestört seine abendliche Pfeife rauchen wollte. Sie dankte ihm also noch einmal und ging. Aber er gefiel ihr.
Auf der Treppe fiel ihr ein, daß sie ihn eigentlich hätte fragen können, ob er jemanden hatte, der ihm die Strümpfe stopfte. Sie nahm sich vor, das bei nächster Gelegenheit nachzuholen.
Sie kam in den folgenden vierzehn Tagen nicht dazu. Aber dann spürte sie eines Abends, als sie in ihr Zimmer kam, einen leichten Tabakgeruch und sah, daß er dagewesen war und ein paar große schöne Kupfernägel in den Stuhl geschlagen hatte. Auf dem Tisch stand die braune Tabaksdose. Es war kein Tabak drin, sie roch auch nicht danach, sie war also gereinigt worden, und man konnte sie für etwas anderes verwenden. Aber sie wollte es ihm nicht so leicht machen, sie nahm die Dose, um ihn aufzusuchen.
Im Stallgebäude war noch Licht. Er wachte bei einer Kuh, die kalben sollte. An Kühe, die kalben sollten, ließ er niemand anderes. Sie sagte ihm, daß die Kupfernägel eine große Überraschung gewesen seien und daß er seine Tabaksdose auf ihrem Tisch vergessen habe. Sie legte sie freundlich lächelnd auf einen Trog. Es war, als ob sich ein dünner Film über seine Augen zöge. Aber er nickte nur. Sie setzte sich neben die Tabaksdose auf den Trog, zwei Stunden saß sie da. Es war warm im Stall, ab und zu hörte man die Tiere im Stroh stampfen und schnaufen.
Es entstand eine Art Gespräch, er sagte ein paar vorsichtige Sätze über die Tiere, nannte einige beim Namen. Sie konnte aus den wenigen Äußerungen auf seine ganze Lebenseinstellung schließen.
Spät im Herbst, an einem Sonntagmorgen, die Gutsherrin war gerade mit dem großen Wagen in die Kirche gefahren, sah Karen Marie Alvilda von ihrem Zimmer aus, wie der Stallknecht in den Stall ging. Er hielt den Kopf schief und steif - sie wußte, daß er einen steifen Nacken hatte. Er hatte seine Sonntagskleider an, sicher wollte er auch in die Kirche. Vom Küchenmädchen wußte sie, daß er nur in die Kirche ging, weil er eine heimliche Schwäche für die Gutsherrin hatte. Es gefiel ihm, die dicke Gutsbesitzerin ihrem Kirchenstuhl sitzen zu sehen. Karen Marie Alvilda mußte lachen, und fix, wie sie war, rannte sie mehr als daß sie ging die Treppen hinunter und in die Küche, wo sie schnell ein paar Lappen in Fett warm machte. Sie würde seinen steifen Hals schon kurieren.
Im Stall wehrte er sich gegen die Fettlappen, aber schließlich gab er doch nach und nahm den Kragen ab. Vorsichtig drückte sie die Lappen auf die schmerzenden Muskeln und erzählte von ihrer Patentante, die ihr das beigebracht hatte. Sie war noch nicht ganz mit ihrer Behandlung fertig, als er sich plötzlich zu ihr umdrehte. Sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück, aber er folgte ihr mit schiefgelegtem Kopf und faßte sie bei den Hüften. Sie sah hübsch aus, so warm und rund und weich, sie hatte noch einen Fettlappen in der Hand. Sie wollte versuchen, ihn dahin zu legen, wo er hingehörte, aber sie waren einander zu nahe gekommen. Er zog sie zu sich herunter auf ein Bündel Heu. Sie half ihm dabei, ihre Unterwäsche auszuziehen, und hielt ihr brennendes Gesicht an seine Wange, so daß sie ihn nicht sah, nur die große Sturmlampe, die an der Stalldecke hing. Sie lag nicht bequem, aber dieses Mal war es nicht unangenehm. Für den Bruchteil einer Sekunde schien es sogar, als ob es doch noch angenehm werden würde. Aber dann wurde sie doch ganz steif und traute sich nicht, sich zu bewegen. Sie konnte sich ihre Gedanken machen - über sein Stöhnen und seine Sonntagskleider, und die ganze Zeit hörte sie die Kirchenglocken. Natürlich war es nett, so seinen Kopf zu halten und zu spüren, wie er dann irgendwann in sich zusammenfiel. Jetzt hatte er wohl „dieses Gefühl“. Es freute sie, daß sie ihn froh machte. Als sie wieder standen, zupfte sie das Heu aus seiner schwarzen Jacke und schimpfte mit ihm, weil die Lappen heruntergefallen und kalt waren. Sie nahm ihn bei den Schultern, drehte ihn um und gab ihm einen kleinen Schubs. Sie lachte immer noch, als er über den Hof ging und in Richtung Kirche verschwand.
Acht Tage später zeigte er ihr, daß er alle seine Papiere beisammen hatte, und bat sie, ihre zu besorgen.
Eines Abends machten sie einen Spaziergang im Wald. Er hatte angedeutet, daß es in den Zimmern zu gefährlich war. Aber der Grund war wohl eher, daß er fand, daß es so abgesprochen aussah, wie bestellt, und das mochte er nicht.
Die fallenden Blätter bedeckten den Waldboden, und die wenigen Blätter, die noch an den Bäumen hingen, waren gelb und braun. Sie kamen an einem stillen See vorbei. Das Moos wuchs bis an den Rand, sie pflückte ein Büschel und zeigte ihm die grünen Sterne. Rund um den See wuchsen helle Birken. Die Stämme waren silbergrau und das Laub golden wie das goldene Zahnkronenstück, das sie zur Konfirmation bekommen hatte. Er ging mit großen Schritten, und sie mußte fast laufen, um mitzukommen. Sie wurde müde und wollte umkehren. Es wurde auch schon dunkel. Als sie sich dem Hof näherten, ging er langsamer, und sie schaute ein paar Mal in sein ernstes Gesicht. Rund herum roch es nach wildem Geißblatt und Erde. Dann setzte er sich unter eine knorrige alte Eiche. Sie konnte seine Augen sehen. Er schaute sie so ernst an, als ob es um Leben und Tod ging, und sie mußte ihm wieder auf die Sprünge helfen. Aber er ließ sie nicht vergessen, daß unter dem Laub ein Zweig lag, der ihr ganz gemein in den Rücken stach und immer mehr schmerzte, je länger es dauerte (er war ein ziemlich kräftiger Mann). Er ließ sie sich wundern, wie mechanisch es vonstatten ging wie zwei Pferde auf der Weide.
Als sie an diesem Abend im Bett lag, überlegte sie, ob sie daran schuld war. Vielleicht konnte sie etwas machen, damit es nicht so mechanisch wäre. Er hatte gesagt, daß sie so gut zu ihm sei. Sie schlief mit einem Lächeln ein, ihr Gesicht war so rund wie der Vollmond, der gerade in ihr Zimmer schien, so daß man die großen Kupfernägel an dem alten Stuhl sehen konnte. Sie lächelte, weil ihr ein paar Dinge eingefallen waren. Sie hatte Lust, sie das nächste Mal, wenn sie zusammen waren, auszuprobieren.
Es passierte in der Mehlkammer. Vielleicht hatte er sie da hineingehen sehen, er kam auf jeden Fall, als sie gerade Roggenmehl mit einer Schaufel abfüllte, die sie aus der Küche mitgebracht hatte. Sie sollte Roggenkekse backen. Auf all den Säcken war genug Platz. Sie hatte einen weißen Kittel an, was sie anging, brauchte da auch nichts abgebürstet zu werden. Er war ihr so nah, wie er nur kommen konnte, da nahm sie seinen Kopf in beide Hände und suchte seinen Mund - aber er änderte nicht seinen Rhythmus. Dann nahm sie seine Hand und legte sie auf ihre Brust - aber seine Hand entdeckte nicht, daß sie rund und fest und angenehm war. Plötzlich durchzuckte sie der Gedanke, ob er wohl überhaupt wußte, daß sie da lag. Sie schob den Gedanken als unmöglich von sich. Dann versuchte sie noch einmal, seinen Kopf zu heben und seinen Mund zu finden, aber er mißverstand es und glaubte, daß jemand kam. Er erschrak und stand ziemlich plötzlich auf. Er schaute sie fragend an, und sie schaute ihn fragend an. Sie bekamen beide keine Antwort.
Eines Samstags nahm sie ihn mit zum Tanz ins Gasthaus. Er hatte seine Sonntagskleider an, sie tranken Kaffee und aßen Sandkuchen dazu. Die Gaststube war voller junger Burschen und Mädchen von den umliegenden Höfen; die Mädchen kreischten, wenn die Burschen sie fest drückten. Ein Drei -Mann-Orchester spielte, es bestand aus einem alten Graubart, der Harmonika spielte, einem jungen, mageren und bleichen Mann, der versuchte, die Harmonika mit seiner Violine zu übertönen, und einem runden, glänzenden Mann am Klavier mit einem Bierkrug obendrauf.
Karen Marie Alvilda wollte gern tanzen, aber Nicolaysen wollte zuerst seinen Kaffee trinken. Als er den getrunken hatte, wollte er seine Pfeife rauchen. Und als sie endlich auf dem Tanzboden waren, begriff sie, warum er sich so lange geziert hatte. Nicolaysen konnte nicht tanzen.
Seine Hand lag auf ihrem Hintern, und er drehte sie verzweifelt im Kreis.
„Leg den Arm um meine Taille“, sagte sie. Aber da blieb er ganz stehen. Sie wollte noch nicht aufgeben und versuchte, ihn noch mal zum Tanzen zu bewegen, aber er schaute die ganze Zeit auf die Füße. Der alte Graubart rief: „Immer feste! Immer feste!“ Es war klar, daß sie gemeint waren, die anderen fingen schon an herüberzuschauen. Also ging Nicolaysen mit langen Schritten zum Tisch zurück, und Karen Marie Alvilda trottete hinterher.
Beim nächsten Tanz kam ein junger Mann angeschlendert und forderte sie auf. Nicolaysen war erleichtert, und Karen Marie Alvilda flog über den Tanzboden. Sie tanzte für ihr Leben gern und fand es wunderbar, herumgewirbelt zu werden. Ein junger Mann zog sie ins Billardzimmer, versuchte sie zu drücken und zu küssen, und fragte, ob er sie nach Hause bringen könne. Sie dachte sich, daß er das wohl mit allen machte, und lief lachend zu Nicolaysen zurück. Er hatte bemerkt, daß sie aus der Gaststube gegangen war, und schaute grimmig drein. Das belustigte und freute sie. Sie war ihm also nicht gleichgültig. Er hatte bezahlt und wollte heim, und als sie protestierte, mischte sich ein junger Mann in das Gespräch:
„Laß doch den Sauertopf. Laß ihn doch allein nach Hause gehen.“
Aber als Nicolaysen aufstand, ging sie mit. Als sie ins Dunkel hinauskamen, nahm sie seine Hand, sie war gut gelaunt und warm vom Tanzen. Sie summte eine Melodie, legte ihren Arm um ihn und versicherte ihm, daß sie ihm schon noch das Tanzen beibringen würde. Er fand das unsinnig und fragte sie, ob sie nach Hause geschrieben hätte wegen ihrer Papiere. Sie antwortete, indem sie ihn von der Straße wegzog, in den Wald hinein.
Zwischen den Stämmen war es dämmrig, man konnte ein paar Meter weit sehen, und als sie ihre Beine gegen seine drückte, merkte sie, daß er lauschte. Irgend etwas knackte im Wald, vielleicht lag da irgendwo schon ein Paar. Sie nahm seine Hand und legte sie unter ihre Bluse auf die Brust; er aber lauschte immer noch. Sie steckte ihre Hand in seine Tasche, da war ein Messer und ein Taschentuch. Sie merkte, wie er zur Seite wich, aber es kam dann doch ein Stöhnen von ihm, und seine Hand griff fester um ihre Brüste. Sie zog ihre Hose aus, achtete aber darauf, daß sie nicht aus seinen Armen rutschte, nahm seinen Kopf zwischen beide Hände und küßte ihn auf den Mund und legte sich ins Moos neben einen Baum. Er stand über sie gebeugt, immer noch lauschend. Der Nachtwind rauschte durch die Blätter und wehte den musikalischen Tumult aus der Wirtsstube herüber. Als er sich zur ihr herabkniete, nahm er sie irgendwie unpraktisch bei den Knien, sie mußte selbst den Rock hochziehen, das Moos stach sie.
Er war zu erregt. Das Kalb im Stall hatte er mit mehr Gefühl angefaßt als ihre Schenkel. Sie hätte sich gewünscht, daß er sie mit beiden Händen um ihr Hinterteil faßte. Klar, das war wohl ein zu dreister Wunsch, aber wenn er schon das nicht machte (sie hätten auch nicht nur Kaffee trinken sollen), dann hätte er sich wenigstens ein bißchen neben sie legen können, denn für sie war es schon wieder vorbei. Aber er merkte es nicht, er machte es wieder mechanisch, und es tat fast weh. Aber sie wollte ihn nicht mit ihrem Erfindungsreichtum stören, sie wußte von dem unseligen Mal auf den Mehlsäcken, daß dann nicht einmal er „dieses Gefühl“ bekommen würde. Mittendrin, so schnell es auch ging, fing nun sie an zu lauschen, ob nicht doch ein Paar da drüben am Waldrand lag.
Auf dem Heimweg hatte sie keine Lust mehr, über die Papiere zu reden. Und auch den ganzen Herbst kam es nicht mehr dazu. Er war zwar sehr sympathisch, und bevor sie morgens aufstand, stellte sie sich als seine Frau vor: Sie stand mit einer weißen Schürze in einer strahlenden Küche, hielt seine Sachen in Ordnung, schlief an seiner Seite im Schlafzimmer mit dem Doppelbett, und sie hatte fünf runde Kinder. Man konnte das schon Liebe nennen. Aber als er beim Tanzen jedes Mal wieder so ernst war und auch sonst nie ein Wort redete, gab sie diesen Gedanken langsam, aber sicher auf.
Sie besorgte ihre Papiere nicht. Sie wollte Nicolaysen nicht heiraten. Sie war neugierig. Sie wollte nach Kopenhagen.
Übersetzung aus dem Dänischen von Regine Elsässer
Dankend entnommen:
Ruth Berlau: Jedes Tier kann es. Erzählungen. Persona Verlag, mit einem Nachwort von Klaus Völker, 164 Seiten, 25 DM.
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