: „Aktenzeichen XY“: keine Lösung in Sicht
■ Eduard Zimmermann, der Schöpfer von „Aktenzeichen XY... Ungelöst“, wird heute sechzig / Von Bernd Siegler
Die Kritik an „Aktenzeichen XY“ ist fast so alt wie die Sendung selbst - aber im Gegensatz zu diesem Dauerbrenner des ZDF blieb sie stets ohne Wirkung: Seit 1967 versammelt sich zehnmal im Jahr eine treue Zimmermann-Fan-Gemeinde vor den Bildschirmen. Da spielt es weiter keine Rolle, daß die „XY„-Redaktion auf jede journalistische Eigenverantwortung verzichtet und sich zum Erfüllungsgehilfen der Staatsanwaltschaften gemacht hat - wie sich 1986 besonders krass erwies.
„Dieser Mann in schwarzer Lederjacke und blauer Turnhose wirft mit Steinen auf Beamte.“ Kurz vor den bayerischen Landtagswahlen - in Folge 188 mit dem Studiofall 9 am 12.9.1986 - wagt sich Eduard Zimmermann auf Neuland. Bildschirmfüllend flimmern die Bilder von fünf WAA-Gegnern knapp 20 Millionen Zuschauern in der Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz ins Wohnzimmer. „Auch hier wieder ein Standbild, auf dem das Gesicht recht deutlich zu erkennen ist.“ Im Jagdeifer erhöht sich die Stimmlage von Ganoven-Ede, bevor er nach Abschluß der Video-Sequenz von der Pfingstdemonstration in Wackersdorf vom 19.6.1986 die ausgesetzte Belohnung von „jeweils 10.000 DM“ verkündet.
Eine Woche nach der Sendung hat sich der Mann mit schwarzer Lederjacke und Turnhose bei der Polizei in Biberach gestellt - unabhängig von den zehn Hinweisen, die nach der Sendung „auch aus dem sozialen Umfeld“ (Bericht des Landeskriminalamtes) gekommen waren. Nach der Vernehmung von zwei eigens aus München angereisten Beamten des Bayerischen Landeskriminalamtes Abteilung „AG-WAW“ wird er wieder freigelassen. Mehr als zwei Jahre danach kommt es zur Verhandlung vor dem Amtsgericht Schwandorf. Vom Fahndungsvorwurf des besonders schweren Landfriedensbruchs war bereits die Staatsanwaltschaft in der Anklage abgerückt. Die Beweislage erweist sich vor Gericht als sehr dürftig, keiner der aufgebotenen Polizeizeugen kann sich an diesen Mann mit blauer Turnhose erinnern. Mit Ach und Krach reichte es zu einer Verurteilung zu 900 DM Geldstrafe wegen versuchter Sachbeschädigung und Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz. Einziges Beweismittel: das Polizeivideo, zusammengestellt von der Filmstelle des Polizeipräsidiums Mittelfranken.
Als Schwerstverbrecher mit einer Belohnung von 10.000 DM gesucht - letztendlich zu einer Geldstrafe verurteilt: über die Verhältnismäßigkeit der Öffentlichkeitsfahndung wollen sich die Redakteure von „Aktenzeichen XY...Ungelöst“ jedoch generell keine Gedanken machen. „Dazu nehme ich keine Stellung“, erklärt „XY„-Redakteur Frank Lämmel barsch, mit den Gerichtsurteilen gegen die Betroffenen will er nichts zu tun haben. „Wir wollen uns doch nicht als Richter aufspielen.“ Auch Rüdiger Wellnitz glaubt keinen Fehler gemacht zu haben: „Wir sind doch keine Hellseher.“ Claus Legal, im ZDF für „Derrick“, „Vorsicht: Falle“ und „XY“ zuständig, enthält sich jeden Kommentars, erklärt jedoch klipp und klar: „Die Sendung steht im Dienste der Kriminalpolizei.“
Nach Kriterien für die Ausstrahlung einer Fahndung gefragt, verweisen die „XY„-Redakteure lapidar auf die von den Justizministern des Bundes und der Länder 1973 verabschiedeten „Richtlinien zur Inanspruchnahme von Publikationsorganen zur Fahndung nach Personen bei der Strafverfolgung“. Demnach entscheidet der Staatsanwalt in der Regel nach Anhörung der Polizei über die Öffentlichkeitsfahndung. Bei der Fahndung nach einem namentlich bekannten Tatverdächtigen ist der „dringende Tatverdacht für eine schwerwiegende Straftat und Haftbefehl“ Voraussetzung, bei der nach einem unbekannten Tatverdächtigen muß eine „nicht unerhebliche Straftat“ vorliegen. In jedem Fall müssen jedoch alle anderen Mittel der Fahndung ausgeschöpft sein, und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - Schutz des Persönlichkeitsrechts versus öffentliches Interesse an der Strafverfolgung - muß dabei beachtet werden.
Die Antworten der „XY„-Redakteure und der Aufsicht in Mainz werfen ein Schlaglicht auf die Praxis bei dieser Sendereihe. Redaktionelle Entscheidungskompetenz ist für „XY“ ein Fremdwort. Zimmermann gibt selbst zu, daß es „keine Eigenmächtigkeiten“ der Redaktion gebe. „Jedes Wort und jedes Bild, das über den Sender geht, wird von den zuständigen Ermittlungsbehörden initiiert und mitgetragen.“ Er stelle der Polizei lediglich „die technischen Möglichkeiten des Fernsehens zur Verfügung“. Job der Redaktion sei es „lediglich, die Plazierung der Fälle in den einzelnen Sendungen vorzunehmen und sie für das Publikum verständlich aufzubereiten“.
Genau das ist der Grund dafür, daß, wie im Falle des WAA -Gegners, Fahndungen ausgestrahlt werden, die nicht einmal den Richtlinien der Justizminister entsprechen. Die Redaktion geht ohne Prüfung davon aus, daß Polizei und Staatsanwaltschaften die Kriterien schon einhalten. „Wir versuchen alles wegzuputzen, was wir bekommen“, erklärt „XY“ -Redakteur Wellnitz, so komme es auch nicht zu einem Überhang von Fällen. Einziges Auswahlkriterium sei die Dringlichkeit.
Tauchen doch einmal Bedenken auf, werden sie entweder durch die Staatsanwaltschaft oder - wie im WAA-Fall - mit Hilfe des Justizministeriums ausgeräumt. Insbesondere Österreich und die Schweiz hatten angesichts des Themas „WAA“ und der Frage, ob der Vorwurf des besonders schweren Landfriedensbruchs ein auslieferungsfähiges Delikt sei, Bedenken angemeldet. Das bayerische Justizministerium und die Oberstaatsanwaltschaft Amberg wurden aktiv: „Wir wurden regelrecht mit Paragraphen bombardiert“, kommentiert Wellnitz. Für Justizpressesprecher Guerein war danach die Verhältnismäßigkeit keine Frage mehr. „Die Art des Delikts, das bis in die versuchte Tötung reicht, sowie die gute Qualität des Bildmaterials“ hätten den Ausschlag gegeben. Die Höhe der Belohnung sei mit dem Bayerischen Justizministerium abgestimmt worden. „Wir können es uns nicht leisten, einen Fall abzulehnen,“ resümiert „XY„ -Redakteur Wellnitz, die gute Zusammenarbeit mit der Polizei stehe schließlich auf dem Spiel. Dem bayerischen Landeskriminalamt und dem Polizeipräsidium München ist denn auch kein Fall bekannt, daß „XY“ ein Fahndungsbegehren abgelehnt hätte.
Polizei und Staatsanwaltschaften haben also faktisch einen direkten Zugriff auf einen Sendeplatz in der öffentlich -rechtlichen Sendeanstalt ZDF. Für Henning Röhl, den Chefredakteur der ARD-Tagesschau, wäre das undenkbar. Auch die Tagesschau strahlt Fahndungsmeldungen aus, doch „die redaktionelle Entscheidungskompetenz liegt bei uns und die nehmen wir auch wahr“. Die Kriterien sind eng gefaßt. Nur wenn es sich um ein Gewaltverbrechen handelt und der Täter als gemeingefährlich gilt, komme eine Fahndung in Frage. Ob die Kriterien zutreffen, so Röhl, entscheidet die Redaktion beziehungsweise der Chef vom Dienst. „Relativ häufig“ würden Fahndungsbegehren abgelehnt. Auch Dr.Hendriks von der Rechtsabteilung beim NDR stellt klar, daß die „Entscheidung über die Ausstrahlung einer Fahndung bei der Rundfunkanstalt beziehungsweise dem Chefredakteur“ liegt. Für Manfred Blödorn von der Sendeleitung Fernsehen beim NDR ist es eine klare Sache der „Trennung der Gewalten, die es bei uns in der Republik zumindest auf dem Papier gibt“. Gegen eine „Vermischung von Medien und Strafverfolgung“ hegt er deshalb ebenso grundsätzliche Bedenken wie der Fernsehdirektor des Hessischen Rundfunks, Dr.Conrad. Peter Glotz schließlich, Mitglied des Fernsehrates des ZDF, hält es nicht für richtig, daß „eine Redaktion sich vorgeben läßt, was sie sendet. Die Selbständigkeit der Redaktion verlangt, daß die Redaktion selbst plant, überlegt und entscheidet2 Redaktionen sind nicht Exekutivorgane von Staatsorganen wie Polizei und Staatsanwaltschaften“.
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