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Jenseits von Gut und Böse

■ Dokumentation eines Strategiepapiers des neuen AL-Abgeordneten Albert Statz zur Kooperation mit der SPD

Es kann keinen Zweifel daran geben: der konservative Senat hat in der Bevölkerung keine mehrheitliche Zustimmung mehr.

Die sozialen Probleme brennen uns auf den Nägeln. Es besteht eine beträchtliche Schnittmenge an konkreten Gemeinsamkeiten zwischen AL und SPD, um die Lebenssituation in der Stadt unmittelbar zu verbessern. Zu sehr mußte sie in den letzten Jahren grün-alternative Inhalte in ihr Programm aufnehmen. Das ist auch ein Erfolg unserer Politik. Aber wir müssen die SPD beim Wort nehmen: in der Zusammenarbeit mit ihr ist es eine praktische und keine ideologische Frage, ob ihr „Lernprozeß“ in den letzten Jahren nur wahltaktisch dazu diente, radikale Opposition zu integrieren, oder ernst zu nehmen ist.

Es ist aber auch offenkundig: Es gibt einen Erwartungsdruck an ein rot-grünes Bündnis, dem eine bittere Ernüchterung folgen kann. Die neue Aufbruchstimmung sollte uns nicht in einen politischen Rausch verfallen lassen, in die Illusion, durch die parlamentarische Mehrheit seien rasche und grundlegende Veränderungen zu erreichen. Sie sind es nicht. Wer die Schwierigkeiten und den möglichen Mißerfolg eines rot-grünen Bündnisses nicht von Anfang an mitdenkt, hat den ersten Schritt zur Niederlage getan.

Als Gegengift gegen die herrschende Euphorie sei die Lektüre des Programms empfohlen, trotz aller Auseinandersetzungen darum - haben wir das alles nie ernst gemeint? Nicht um die Illusion zu schüren, dieses Programm sei mit der SPD durchzusetzen. Sondern um die eigene Identität nicht zu verlieren, um die Widersprüche zur SPD offen auszusprechen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen können wir in der Zusammenarbeit mit der SPD bestenfalls rosa Inhalte mit grünen Einsprengseln verwirklichen und keine rot-grünen in dem Sinne, daß auch nur ein substantieller Teil unserer Vorstellungen umgesetzt würde.

Zu meinen, es gäbe nach diesem alle überraschenden Wahlergebnis bereits eine Mehrheit für zentrale grün -alternative Inhalte in der Stadt, ist eine Illusion. Weder die sofortige Abschaltung des Reaktors im Hahn-Meitner -Institut noch die vollständige Abschaffung des Verfassungsschutzes, weder offene Grenzen für alle Flüchtlinge, noch ein von der Industrie bezahlter Strukturfonds sind gegenwärtig durchsetzbar. Wer meint, es gäbe für das grün-alternative Gesamtprojekt eine gesellschaftliche Mehrheit, der zerstört die konkreten Möglichkeiten, die wir haben: in einer rot-grünen Zusammenarbeit die ersten Schritte, die die SPD gehen will und die zu recht von den Menschen in der Stadt gewollt werden, auch tatsächlich zu realisieren, zu versuchen, die SPD dabei in eine weitergehende Reformdynamik zu drängen und vor allem den gesellschaftlichen Mehrheiten inEinzelfragen durch Kooperation und durch eigene außerparlamentarische Mobilisierung zum Durchbruch zu verhelfen.

Unsere entscheidende Frage an die SPD, die nicht durch Forderungskataloge und Bündnisabsprachen alleine zu beantworten ist, lautet: Ist die SPD bereit, sich nicht hinter den vermeintlichen Sachzwängen zu verstecken, sondern mit den Widerständen gegen einen politischen Neuanfang offensiv umzugehen? Sich der Auseinandersetzung mit den außerparlamentarischen Kräften in der Stadt zu stellen und gesellschaftliche Mehrheiten für ihre Politik aktiv zu organisieren - zumindest eine Rollenteilung mit der AL zu akzeptieren?

Die entscheidende Frage an uns selbst lautet: Können wir unsere politische Identität in dieser Zusammenarbeit bewahren? Wir müssen eine Form der politischen „Verantwortung“ und des direkten Einflusses auf die staatliche Politik finden, in der wir nicht - wie bei der rot-grünen Zusammenarbeit in Hessen - gezwungen sind, die Politik des Senats immer wieder als unsere eigene ausgeben zu müssen. Sind wir in der Lage, die Verbindung zur Politik außerhalb von Parlament und Senat aufrechtzuerhalten?

Beide Fragen sind nicht im vorhinein zu beantworten, sondern nur aus der gemeinsamen Praxis. Ein politischer Aufbruch in der Stadt verlangt eine rasche Entscheidung über die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in einem festen Rahmen, um ein politisches Zeichen zu setzen und einen Neuanfang konkret anzufangen. Angesichts der Tatsache, daß keine der Parteien auf diese Zusammenarbeit wirklich vorbereitet ist, angesichts der besonderen politischen Situation der Stadt, angesichts der fehlenden gesellschaftlichen Mehrheit für ein rot-grünes Projekt sollten AL und SPD in der Zusammenarbeit erst einmal Erfahrungen mit den besonderen Rollen, mit der Arbeitsteilung, insbesondere mit dem Verhältnis von parlamentarischer, staatlicher und außerparlamentarischer, gesellschaftlicher Politik machen. In so kurzer Zeit läßt sich eine solide Basis für eineumfassende Zusammenarbeit kaum herstellen, die die Umsetzung von Beschlüssen, die zeitlichen Fristen und die Finanzierungsmöglichkeiten präzise festlegt, so daß die Gefahr besteht, daß die Vereinbarungen im wesentlichen aus politischen Absichtserklärungen besteht. Sinnvoller ist, beides zu trennen: sich auf ein kurzfristiges Aktionsprogramm zu einigen und auf dieser Grundlage eine Minderheitsregierung stabil zu unterstützen und gleichzeitig die gemeinsame Politik in allen Bereichen weiterzuentwickeln und auf diese Weise zu einer breiteren und noch festeren Kooperation zu gelangen.

Es ist eine praktische Frage, wie ein rot-grünes Bündnis organisiert werden kann, die beiden Partnern ihre Identität beläßt und gleichzeitig eine stabile, „arbeitsteilige“ Kooperation ermöglicht. Wir haben eine Verantwortung für die Stabilität des politischen Neuanfangs. Das politische Problem, dem wir uns gegenüber sehen, ist keines der politischen Moral. Es liegt jenseits von Gut und Böse. Wenn es ein „Bündnis“ auf einer klaren Grundlage gibt, wenn wir uns entschieden haben, daß die Gemeinsamkeiten als Minimum ausreichen, dann kann es kein ständiges Drohen mit dem „Bruch“ geben, sondern dann müssen wir auch alles das, was uns völlig unzureichend erscheint oder sogar unseren Prinzipien widerspricht, „schlucken“ und öffentlich ausspucken.

Alte Glaubenskämpfe über die Zusammenarbeit mit der SPD sind nicht mehr gefragt. Es kann gegenwärtig nicht darum gehen, sich abstrakt für ein „Modell“ der Zusammenarbeit („Tolerierung“ oder „Koalition“) zu entscheiden. Wir sollten auf unserer Formulierung in dem Brief an die SPD, die Kooperationsmöglichkeiten gingen „bis hin zur Koalition“, offensiv bestehen und damit die Form der Kooperation davon abhängig machen, in welchem Ausmaß wir uns über politische Inhalte einigen können.

Wir wollen eine stabile Kooperation, die um so enger sein wird, je mehr wir von unseren Zielen verwirklichen können. Eine Koalition wäre die stärkste Form der Zusammenarbeit. Aber eine geringere Bindung kann auch stabiler sein, weil der Konsens klarer ist und mit Problemen in der Zusammenarbeit flexibler umgangen werden kann. Wir müssen eine „Alles-oder-nichts-Situation“ vermeiden und von vornherein offenlegen, daß es um den Beginn einer gemeinsamen Politik geht und daß dies auch unterhalb einer „Koalition“ möglich ist. Dabei ist dem Mißverständnis (in der SPD und in den eigenen Reihen) entgegenzutreten, die „Tolerierung“ (in welcher Form auch immer) sei weniger „verbindlich“ als eine Koalition. Die SPD schließt die Tolerierung eines Minderheitensenates keineswegs aus; für die gegenüber einer Zusammenarbeit mit der AL skeptische SPD -Rechte könnte diese Form sogar zunächst akzeptabler sein.

Als Richtschnur für die Verhandlungen bietet sich ein „abgestuftes Modell“ für die Zusammenarbeit an: es reicht von der zunächst bedingungslosen Wahl Mompers zum Regierenden Bürgermeister über eine vereinbarte Tolerierung in verschiedenen Formen (auf der Grundlage eines Aktionsprogramms bis hin zur Einigung über einen neuen Haushalt für 1989, einer gemeinsamen Schwerpunktbildung für die weiteren Haushalte und zu Zielvorstellungen für eine künftige gemeinsame Politik) bis hin zur Koalition (mit von uns nominierten parteiunabhängigen Fachleuten oder eigenen Senatoren). Erforderlich ist eine „Clearing-Stelle“ zwischen SPD und AL, die nicht nur präzisere Absprachen trifft und aktuelle Konflikte bewältigt, sondern die auch die zukünftige Zusammenarbeit plant und mögliche Konflikte im vorhinein austrägt.

Wir brauchen ein rot-grünes Bündnis, das über die Aufbruchstimmung und den Schock über die „Republikaner“ hinaus von Bestand ist und unsere eigene Identität nicht leugnet. Zu diesem Bündnis gibt es keine Alternative.

Von der Redaktion gekürzt.

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