: Deprimierendes Hoch über Europa
„Wasser...!“ - Europas Süden stöhnt unter dem Regime des Antizyklons wie ein Verdurstender in der Kalahari.
In den französischen Pyrenäen haben sich die Gebirgsbäche in triste Staubfänger verwandelt, und die wackeren Landleute des Departement Haute-Garonne stehen ratlos vor ihrer Scholle: Der Boden ist zu trocken, um die Wintersaat aufzunehmen - und das mitten in dem Monat, den die Sansculotten einst nicht ohne Grund „Pluviose“, Regenmonat, nannten.
Kopfschütteln auch in Paris, wo die Flaneure in sonnigen Straßencafes ihrer Zeitung entnehmen konnten, daß die Bewohner der meerumschlungenen Ile de Molene an der äußersten Westspitze Frankreichs bereits zum dritten Mal mit Trinkwasser versorgt werden mußten.
Währenddessen toben Waldbrände an der Cote-d'Azur: In der Nähe von Grasse konnte ein Waldbrand kürzlich erst nach zwei Tagen gelöscht werden. Insgesamt fielen in diesem Winter schon über 200 Hektar Wald den Flammen des Februars zum Opfer.
Gleiches Bild in Italien. Wald- und Steppenbrände in Sardinien und Liturien, 446 Feuer in einem Monat. Lugano hat seit dem 6.Dezember letzten Jahres kein Tröpfchen Wasser mehr vom strahlendblauen Himmel fallen sehen, und als in Genua das Gebet der Gläubigen nach Regen nichts fruchten wollte, mußte die Stadtverwaltung tags darauf das Wasser rationieren: Kein Autowaschen mehr, kein Gartengießen vor dem nächsten Regen. O tempora, o mores!
Aus Großbritannien erreichen uns Depeschen, die von frühreifem Froschlaich, verunsicherten Bienenschwärmen und Igeln berichten, die vergeblich in Winterschlaf zu fallen versuchen und nun ruhelos durch die Suburbs streifen.
Die Brennstoffunternehmen bleiben auf ihren Lagerbeständen sitzen, und in den Kellern der Straßenmeistereien stapeln sich die Salz- und Streusäcke, weil die britischen Straßen noch kein einziges Mal von Eis und Schnee befreit werden mußten.
Selbst Lord Dickinson aus Painswick zu Gloucestershire eröffnete - eine kleine Sensation für Kenner - seine Blumengärten einen ganzen Monat früher als sonst.
Anne-Marie N. aus Kopenhagen ist Mitglied des „Wikinger Club“, zu dessen Aufgaben es seit urdenklichen Zeiten gehört, im Winter allmorgendlich Löcher in das Ostsee-Eis zu hacken, um die Mitglieder sekundenlang unterzutauchen zu lassen. „Bestes Wetter zum Schwimmen“, meldete die Wikingerin gestern, als das Eishacken wieder einmal entfiel. „Bei fünf Grad Wassertemperatur ist es zwar noch nicht ganz hyggeligt (gemütlich, d. Red.) in der Ostsee, aber doch schon fast so angenehm wie ein sommerliches Bad in einem grönländischen Gletschersee.“
A propos: Selbst der Nordpol drohte vergangene Woche aus den Fugen zu geraten. Die auf einer Eisscholle treibende sowjetische Forschungsstation „Nordpol 28“ war durch die für die Jahreszeit ungewöhnlich hohen Temperaturen von ihrem Kurs in der Grönlandsee abgetrieben worden und in wärmere Gewässer des Nordatlantik abgedriftet. Erst nach einer dramatischen Rettungsaktion des Eisbrechers „Rossija“ konnte die Station von der schmelzenden Scholle gerettet werden.
In Dublin, wo der taz-Korrespondent das plötzliche Blühen seines Kirschbaums am Neujahrsmorgen zunächst dem eigenen Sylvester-Guiness zuschreiben wollte, führt das nicht endenwollende Hoch, das über Europa lastet, zu Depressionen in der Bevölkerung. Für 50 Pence werden Smog-Masken in den Straßen feilgeboten: Die berüchtigte „Inversionswetterlage“ puschte die Rauchwerte auf das Fünffache der EG-Normen, vor allem in den Arbeitervierteln im Süden, wo mit billiger, schwefelreicher Importkohle geheizt wird.
Budapest, Athen, Madrid, Paris und Mailand - überall in Europa drückt das Hoch in diesen Tagen eine Smogglocke über die Menschen. Das Genfer Amt für Lufthygiene rief am Wochenende dazu auf, das Auto zuhause stehen zu lassen, nachdem die Stickstoffkonzentration auf 135 Mikrogramm - 35 Mikrogramm über dem zulässigen Grenzwert - gestiegen war.
Da Franzosen bekanntlich resistent gegen ökologische Fährnisse sind, konnten die Stadtverwaltungen von Marseille, Le Havre und Rouen auf Fahrverbote verzichten - obwohl die Luftverschmutzung um das drei- bis vierfache über dem Normalwert lagen.
Noch drastischer stellt sich die Lage südlich des österreichischen Alpenhauptkamms dar: In Kleinkirchheim traf sich jüngst ein Konsortium aus Gebietskrankenkassen und Banken zum Krisengipfel. Weil die Einnahmen der örtlichen Skiliftbesitzer konsequent bei Null stagnierten, beschlossen die Banker, die Zahlungsfristen zu strecken. Verfluachta Zykloan!
Alexander Smoltczyk
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