Atom-Aufrüstung: Mars statt Lance

USA schaffen Fakten bei „Modernisierung“ der Kurzstreckenwaffen / Lance-Nachfolge durch Mars  ■  Aus Genf Andreas Zumach

Die USA haben im Alleingang eine wesentliche Vorentscheidung für die „Modernisierung“ der atomaren Kurzstreckenwaffen der Nato getroffen. Als „Nachfolge“ für die 88 Lance -Abschußgeräte soll das Mehrfach-Raketen-Werfersystem Mars in Westeuropa, vor allem in der Bundesrepublik, stationiert werden. Das geht aus dem Jahresbericht des Pentagon für das US-Haushaltsjahr 89/90 hervor. Der Bericht wurde gestern, nur wenige Tage vor dem ersten Bonn-Besuch des neuen US -Außenministers Baker am kommenden Sonntag veröffentlicht.

Die Bundesregierung sowie die Brüsseler Nato-Zentrale hatten bislang dagegen stets erklärt, es seien noch keinerlei Vorentscheidungen über die Art des Lance -Nachfolgesystems gefallen. Amerikanische Waffenentwicklungen seien eine „rein nationale Angelegenheit der USA“ ohne Präjudiz für die Nato. Neben Mars gebe es „eine Reihe anderer Optionen“, u.a. das französische Hades oder das Patriot-System. Über Art und Umfang neuer Atomwaffen sowie den Zeitpunkt ihrer Einführung, so die offiziellen Angaben, werde erst im Rahmen des „Gesamtkonzeptes“ der Allianz entschieden. Dessen Vorlage ist für die Nato-Tagungen im April/Mai angekündigt. Laut Pentagon-Bericht sollen insgesamt 750 Mars-Werfer in Westeuropa stationiert werden. Davon 105 in Großbritannien, 55 in Frankreich, 30 in den Niederlanden und 20 in Italien. Das ist allein für die Niederlande das Zehnfache der bisher stationierten drei Lance-Abschußgeräte. 200 Werfer gehen an die Bundeswehr, der Rest an die US-Streitkräfte in der Bundesrepublik. Diese Zahlen nennt auch der britische Verteidigungsminister Younger in einem internen Papier. Nicht alle 750 Mars-Werfer sollen mit Atomraketen bestückt werden. Für einen Teil produzieren die USA bereits die Taktische-Armee-Rakete (ATACM) mit konventionellem Sprengkopf.

Das Pentagon entwickelt derzeit auch einen atomaren ATACM -Sprengkopf und möchte diese Atomrakete in der Nato als Nachfolgewaffe für die bisherige Lance-Rakete durchsetzen. Die jetzt getroffene Entscheidung für Mars als Werfersystem erhöht den Druck auf die Bündnispartner. Wieviele der atomaren ATACM-Raketen produziert und wieviele der 750 Mars -Werfer in Westeuropa damit bestückt werden sollen, hält das Pentagon geheim. Doch was immer die Zahl ist: sollte die Nato die atomare ATACM als Nachfolge für die Lance-Rakete akzeptieren, müssen die osteuropäischen Staaten bei ihrer Beurteilung der militärischen Lage de facto von 750 neuen atomaren Kurzstreckenraketen in Westeuropa ausgehen.

Es ist von außen nicht feststellbar, ob eine ATACM-Rakete auf einem Mars-Werfer einen atomaren oder einen konventionellen Sprengkopf trägt. Wie aus dem Pentagon Fortsetzung auf Seite 2

Bericht hervorgeht, soll auf Drängen der US-Army auch ausdrücklich auf jegliche Kennzeichnung zur Unterscheidung verzichtet werden. Eine Umsetzung dieser Pläne würde die Lage in Europa destabilisieren und die Rüstungskontroll- und Abrüstungsbemühungen torpedieren.

Andere Bedenken gegen die atomare ATACM als Nachfolge für die Lance-Rakete gibt es in der Bundesregierung. Die bisherige Entwicklung der ATACM mit atomarem Sprengkopf war vom Pentagon auf rund 240 Kilometer Reichweite und damit gegen Ziele in der Bundesrepublik oder maximal der DDR ausgelegt. Bonn drängt aber auf eine Reichweite von knapp 500 Kilometern, mit der, wenn nicht die UDSSR so doch Polen erreicht werden kann. Das Bundesverteidigungsministerium wartet immer noch auf die schon vor Monaten für Dezember 1988 zugesagte Mitteilung des Pentagon, ob eine Reichweitenverlängerung für die atomare ATACM auf 500 Kilometer technisch möglich ist und ob sie in der Waffenproduktion umgesetzt wird. Es ist nicht auszuschließen, daß die vom Bundesverteidigungsministerium ursprünglich als Nachfolge für die Pershing-IA bei MBB und Martin-Marietta in Auftrag gegebene Entwicklung der KOLAS -Rakete mit einer Reichweite von knapp 500 Kilometern nun von Bonn als Alternative gegen die atomare ATACM ins Spiel gebracht wird.