: UNSERE NATIONALGALERIE
Der Maler Yves Klein hat die ersten Bilder gemalt, die nur aus einer einzigen Farbe bestehen, einer der kühnen Vorstöße in unbekannte Bereiche künstlerischer Möglichkeiten, die die Kunst dieses Jahrhunderts kennzeichnen. Die berühmtesten seiner Bilder sind ein strahlendes, gleichzeitig geheimnisvolles, samtiges Blau. Blau von einem Rand des Bildes zum anderen, ohne jegliche Zeichnung, Modulation, Schattierung. In der Staatsgalerie Stuttgart hängt ein solches blaues Bild von Yves Klein, kostbar präsentiert auf einer bevorzugten Wand. Leider wirft ein Vorsprung an der Decke einen Schatten auf das Bild, so daß der obere Teil dunkler als der untere erscheint. In Stuttgart ist das Bild von Yves Klein nicht ein strahlendes, gleichzeitig geheimnisvolles Blau, sondern ein Bild aus zwei dunkel- und hellblauen Flächen, deren Verhältnis zueinander der Elektriker des Museums bei der Anbringung der Beleuchtung bestimmt hat.
In Berlin ist zur Zeit in der Nationalgalerie ein Bild zu sehen, das einen Spiegel mit blauem Hintergrund darstellt. Der Effekt auf die Betrachter, die sich in diesem großen Spiegel blau verfremdet erblicken, ist allerliebst. Die daneben angebrachte Bildbezeichnung behauptet allerdings, es handele sich hier ebenfalls um eins der geheimnisvoll strahlenden blauen Bilder von Yves Klein. Der nachdenkliche Besucher entdeckt bald, daß der Direktor der Nationalgalerie, Herr Professor Dr. Hohnisch, tatsächlich dieses samtige blaue Bild in spiegelndes Glas gepackt hat, wie Samt in eine Zelluloidschachtel. Es soll wohl vor dem Betrachten geschützt werden.
Noch unter dem Schock über so viel museumspädagogische Sorgfalt tritt der Besucher in eine Nische, die durch ein kraftvolles Relief von Lee Bontecoo so eingezwängt wird, daß es von der Seite überhaupt nicht zu sehen ist. Überhaupt eine Leistung, in diesem weiten, gläsernen Raum eine Nische einzubauen! Aber gleich nebenan hängt Hohnisch ein großes, zweiteiliges, fast monochromes weißes Bild von Raimund Girke so einfallsreich hinter die Gardine, daß die Sonne mit den niedlichsten Mustern auf dem zarten Weiß des Bildes spielt. Sein ganzes Leben hat Raimund Girke sich mit der Farbe Weiß abgeplagt, bis ihm endlich der Direktor der Nationalgalerie, Professor Dr. Hohnisch, in kluger Erkenntnis von Girkes offenbar beschränktem künstlerischen Verstand das Bild mit feinen konzeptuellen Lichtspielen verfeinerte.
Wenn es ein Klagerecht Nichtbetroffener gäbe, müßten solche Museumsdirektoren nach dem Urheberrecht wegen Verstümmelung von Kunstwerken belangt werden.
Dieter Masuhr
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