: Bonner Verwirrspiel um Modernisierung
Bonn feilscht mit Nato-Partnern über Formulierung zur Entwicklung der Lance-Nachfolge, die der Bundesregierung die Behauptung erlaubt, Entscheidung über „Modernisierung“ sei noch nicht gefallen ■ Aus Genf Andreas Zumach
Angesichts der Bundestagswahlen 1990 ist Kanzler Kohl bemüht, den Eindruck zu erwecken, als habe seine Regierung bislang noch keine Nato-interne Zustimmung zur „Modernisierung“ der Lance-Atomraketen gegeben und sei gewillt, entsprechende Festlegungen auch bei den in diesem Jahr anstehenden Nato-Tagungen zu vermeiden sowie die planmäßig laufenden „Modernisierungs„vorbereitungen aufzuhalten.
Nach Begegnungen mit US-Präsident Bush und dem amerikanischen Außenminister Baker erklärte der von Kohl nach Washington entsandte Kanzeramtsminister Schäuble am Wochenende, er sei sich mit seinen beiden Gesprächspartnern in drei Punkten „einig“ gewesen: Erstens dürfe es keine Null -Lösung bei den atomaren Kurzstreckenraketen in Europa geben. Zweitens werde die Nato auf einem Gipfeltreffen im Frühsommer über ihr „Gesamtkonzept“ entscheiden und dabei auch atomare Waffensysteme bis 500 Kilometer Reichweite „berücksichtigen“ sowie ein Konzept für weitere Abrüstungsvorschläge vorlegen“. Und drittens müßten „notwendige Einzelentscheidungen über ein Nachfolgesystem für die atomare Lance-Rakete nicht vor 1991 getroffen werden“.
Kohl selbst hatte in einem am Freitag veröffentlichten Gespräch mit der britischen 'Financial Times‘ erklärt: „Die eigentliche Entscheidung über Produktion und Modernisierung steht erst 1991/92 an.“ Er reagierte damit auf den britischen Verteidigungsminister Younger, der nach Gesprächen mit Scholz davon ausging, daß die noch ausstehenden „Modernisierungs„entscheidungen mit Zustimmung Bonns „in diesem Jahr“ getroffen werden.
Die Äußerungen von Kohl und Schäuble verschleiern den wahren Stand der Dinge. Die Produktion von - prinzipiell mit konventionellen wie mit atomaren Raketen bestückbaren - 750 Mehrfach-Raketenwerfersystemen (MARS) sowie ihre Auslieferung an die Bundeswehr und verbündete Nato -Streitkräfte läuft bereits und soll bis 1995 abgeschlossen sein. Für eine bereits produzierte, von MARS abzuschießende konventionelle Kurzstreckenrakete (ATACM) entwickeln die USA derzeit einen atomaren Sprengkopf. Washington will diese Waffe als Nachfolge der atomaren Lance in der Nato durchsetzen. Der US-Kongreß bewilligte 7,5 Millionen Dollar für eine erste Entwicklungsstudie im vergangenen Juli unter ausdrücklicher Berufung auf die Zustimmung aller Bündnispartner. Beim Brüsseler Gipfel im März '88 hatten die Nato-Partner beschlossen, die atomaren Waffen „up to date“ zu halten. Auf der Verteidigungsministertagung Ende April widersprach Bonns Vertreter, Exstaatssekretär Rühl der von US-Verteidigungsminiter Carlucci vorgelegten US -Atomwaffenplanung nicht, was nach Bündnis-Regeln als Zustimmung gewertet wird.
Für die jetzt anstehende Bewilligung von Geldern für die zweite Entwicklungsphase der atomaren ATACM-Rakete verlangt der US-Kongreß aber ein weitergehendes Signal. Das muß oberhalb der allgemeinen Ebene vom „up to date„-Halten der atomaren Waffen liegen, aber noch keine explizite Stationierungsentscheidung mit konkreter Benennung neuer Waffensysteme sein, wie der Nato-Oberkommandierende General Galvin bereits im Dezember gegenüber der taz erklärte. Bonn, Washington und London feilschen derzeit um eine entsprechende Formulierung, die den laufenden Prozeß der Finanzierung von Entwicklung und Produktion bis hin zur geplanten Einführung der atomaren ATACM-Rakete 1995 nicht gefährdet, zugleich aber der Bundesregierung weiter die Behauptung erlaubt, die Entscheidung sei noch offen.
Die Schäuble/Kohl-Äußerungen skizzieren die Richtung: Die Aussage „keine Null-Lösung“, kombiniert mit der bisherigen Nato-Feststellung, „die Lance-Raketen sind ab 1995 nicht mehr einsatzfähig“, bedeuten de facto eine zeitlich präzisierte Zustimmung zur Modernisierung. Der Hinweis, daß über die Produktion und damit über die Art der Modernisierung erst 1991/92 entschieden wird, beschreibt lediglich die Tatsache, daß das Pentagon bis zu diesem Zeitraum die Entwicklungsphasen für die atomaren ATACM -Rakete abschließen will, und dann im US-Kongreß die Finanzentscheidungen für die Serienproduktion anstehen. Klar ist, daß die Bundesregierung nicht vorhat, von ihrer Möglichkeit Gebrauch zu machen, den „Modernisierungsprozeß“ durch ein eindeutiges Veto bei der Tagung der Nuklearen Planungsgruppe der Nato vom 18.-20.April in Brüssel oder beim Londoner Gipfeltreffen im Mai tatsächlich zu stoppen. Gelingt es Bonn, bei den Nato-Tagungen in diesem Jahr eine Festlegung auf die ATACM-Rakete zu vermeiden, bliebe auch die Möglichkeit offen, zu einem späteren Zeitpunkt die bundesdeutsche KOLAS-Raketenentwicklung als Alternative zu ATACM in die Diskussion zu bringen. Bonn bemüht sich zugleich um eine zumindest allgemein gehaltene, zeitlich nicht präzisierte Zusicherung der Regierungen Bush und Thatcher, daß über atomare Kurzstreckenraketen in Wien oder an anderer Stelle verhandelt wird.
Mit dem von Schäuble erwähnten Konzept für einen weiteren Abrüstungsvorschlag sind Überlegungen gemeint, die ohnehin anstehende Verschrottung von 1.100 bis 1.300 in Westeuropa als „einseitigen Abrüstungsschritt“ der Nato zu verkaufen, um damit die Zustimmung in der Bevölkerung zur Einführung neuer Waffen zu erhöhen.
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