: Eine Million Menschen
■ Ein Reporter vom Berliner Börsen Kurier beim Versuch, sich Chaplin zu nähern
Als die Bevölkerung der Weltstadt zu wochentäglichen Tun erwachte, dürften es mindestens eine Million Menschen gewesen sein, die sich vornahmen, unserem Charlie, unser aller Charlie, persönlich zu begrüßen. Wie reizend von ihm, Paris schießen zu lassen und lieber schleunigst, statt Ende März, schon jetzt nach Berlin zu kommen. So heftig hat ihn die Sehnsucht nach der Spree gepackt. Vielleicht will er auch den vielen falschen Chaplins, die bei jeder Gelegenheit, auf Kostümbällen, im Lunapark und wer weiß wo noch auftauchen, ein Ende bereiten. Schließlich will er der Menschheit auch einmal ohne verbogene Watschelschuhe entgegentreten. Kein noch so dimensionaler Weltruhm kann verhindern, daß der Mensch, auch wenn sein Ruf sich aus Lachsalven und hunderttausend grotesken Bewegungen zusammensetzt, auch ein bißchen sein normales Aussehen liebt.
Wahrscheinlich ist nicht die gesamte Million Menschen, wie sie es plante, zur Begrüßung Chaplins vorgedrungen. Das Leben ist so eigensinnig, hat Bürostunden, Zwischenfälle, dringende Verabredungen und Lustgefühle, die nicht bloß auf -, sondern auch abwogen. Wahrscheinlich werden bloß ein paar Hunderttausende es gewesen sein, die es zur Begrüßung Charlies hinzog. Genau gezählt habe ich sie ja nicht.
Außerdem schwankte ich zwischen Friedrichstraße und dem Hotel Adlon, wo er Quartier nimmt. Dort bot ich dem Fahrstuhlboy tausend Mark, wenn er mir seine Montur überlassen und sich dünnemachen wollte. Aber die Montur paßte mir nicht, und außerdem zitterte der Junge um seine auf ein besseres Trinkgeld spekulierende Position. Ich ruderte rücksichtslos mit dem Armen, um wieder zum Bahnhof Friedrichstraße zu gelangen, ließ mich durch Ohnmachtsanfälle nicht beirren, tröstete den Chauffeur, der mehrfach aufgeschrieben wurde, durch vorbezahlte Strafmandate. Die Stockung dort unten in Halensee, die kurz vor Chaplins Ankunft unentwirrbar entstand, war nur eine Folge der vom Zentrum her sich verkrampfenden Verkehrswellen.
Jedenfalls war es ein Wunder, daß ich noch rechtzeitig den Bahnsteig passieren konnte, im letzten Augenblick, als der Zug gerade ankam. Chaplin hatte das Aussehen eines normalen, älteren, mittelgroßen Herrn, der durch nichts, aber auch durch gar nichts auffallen wollte. Leider gab es beim Aussteigen mehrere derartige Erscheinungen. Warhscheinlich war es der sympathische Mann, der mitten aus der Umzinglung heraus plötzlich im Laufschritt dem Ausgang zustrebte, aber mittenmang stehen blieb. Vielleicht kann er nur in Schuhgondeln so hasten, und er gab das Rennen auf. Angesichts der Verwirrung entschloß ich mich wieder für das Adlon.
Ich packte die Geschichte, wie ich mir selber zugestehen muß, ungemein schlau an und mietete ein paar Appartments neben Chaplin. Ich erhielt sogar dieselben, bloß ein Stockwerk höher. Immerhin kostete das einige Zeit, und Charlie hatte sich gerade in dem Augenblick in sein Zimmer zurückgezogen, als ich die Treppe harmlos wie ein Unbeteiligter herunterkam. Der Liftboy warf mir einen triumphierenden Blick zu. Er hatte statt meiner schäbigen tausend Mark ebenso viele Dollars bekommen. Ich muß es ganz anders anfangen. Wir werden ja sehen.
NB: Ein Kollege machte mich darauf aufmerksam, daß Chaplin zu der Stunde, in der ich meinen Bericht abliefere, noch gar nicht in Berlin sein kann. Die Uhr ist dem gräßlichen Pedanten wahrscheinlich stehen geblieben.
uf.
Aus: Berliner Börsen Kurier, 10.3.1931
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