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Aus Bauern wurden Krieger

Widerstand und Flucht haben die afghanische Gesellschaft verändert / 1,2 Millionen Tote, zerrüttete Familien, ausgeblutete Landwirtschaft und epidemische Krankheiten stellen die Wiederaufbaustrategen vor schwere Aufgaben / Für die Widerstandsorganisationen begann mit dem „Heiligen Krieg“ das 20.Jahrhundert  ■  Von Jan-Heeren Grevemeyer

Die internationale Journalistengemeinde filmt Rambo-Gesten und -Szenarien und dokumentiert damit von den Sturmspitzen der afghanischen Widerstandsbewegung aus den Endkampf des Kabuler Regimes. Bei den Afghanen im persischen Exil sowie bei den in Peshawar akkreditierten westlichen Aufbauspezialisten herrscht währenddessen eine verrückte Stimmung. Bei den Afghanen sieht es so aus, als gelte es plötzlich, eine von Missionaren, Demagogen und Gauklern propagierte Welt in die Realität umzusetzen; unter den internationalen Expertenteams macht sich eine Stimmung wie vor einem großen historischen Treck breit. Beide Gruppen jedoch träumen von der Räumung einer alten und der Inbesitznahme einer neuen Welt: Die Afghanen sehen sich in ihre Heimat zurückkehren, und die anderen - getragen von Idealismus sowie Karrieredenken - hoffen auf Rückwanderung und Wiederaufbau. Doch während die Expertenherzchen nur angesichts der Größe der Aufgabe klopfen, steht den Afghanen noch das Aufwachen aus zehn Jahren Krieg und Exil bevor. Es wird ein Aufwachen in eine unwirtliche und düstere Welt sein, in der keine heroischen Erwartungen das Leid lindern helfen.

Zehnjähriger Lernprozeß

Im April 1978 gelangte in Kabul durch einen blutigen Militärputsch die Kommunistische Partei an die Macht. Mit gewaltsam durchgesetzten Reformen versuchte die Partei das „feudale und vorfeudale System“ im Lande zu beseitigen und rief damit eine von sämtlichen Bevölkerungsteilen getragene Bauernrevolte hervor. Ende 1979 hatte diese spontane und anarchische Bauernrevolte ein derartiges Ausmaß erreicht, daß die Tage der Regierung gezählt schienen. Der Einmarsch sowjetischer Truppen 1979/80 sollte das Regime stabilisieren helfen, führte jedoch vorrangig zur strukturellen Veränderung des Widerstandes: War die Widerstandsbewegung bis zu dem Zeitpunkt gegen die Anmaßung der hauptstädtischen Modernisierer gerichtet, erhielt sie plötzlich schnell und umfassend den Charakter eines Widerstandskampfes gegen koloniale Bevormundung und ungläubige Imperialisten. Die Ideologisierung des Islams, das Aufkommen neuer Führungsschichten, die Organisation von Parteien und die Modernisierung des Krieges von unten trugen zum militärischen Erfolg der Widerstandsbewegung und zu einem neuen politischen Bewußtsein unter den Afghanen bei.

Ein Ausdruck dessen war die propagandistische und ideologische Umpolung des Befreiungskrieges in einen heiligen Krieg für eine moderne und neue islamische Gesellschaft. Diese erscheint um so berechtigter, als der Widerstand nicht nur aus dem Volk kam, sondern das Volk selber war. Mit diesem Krieg und den daraus resultierenden Veränderungen betrat Afghanistan zugleich das 20.Jahrhundert. Das Erwachen aus dörflichem Bewußtsein und agrarischer Subsistenzproduktion erfolgte dabei in zwei Richtungen - die Gesellschaft erlernte zum einen das Kriegshandwerk und zum anderen das Überleben im Exil oder auf der Flucht. All das mit viel Pragmatismus, Witz, auch aus Verzweiflung und gottergeben. Krieger- und Flüchtlingsdasein wurden dabei durchaus als zwei verschiedene Seite der gleichen Sache begriffen - beide waren das Ergebnis des „Jehad“, des heiligen Krieges.

So sehr in all diesen Jahren der Krieg und das Exil die kollektive Bereitschaft, bis zur Selbstaufgabe weiterzumachen, forcierte, so wenig war ein Nachher vorstellbar. Die Parteiprogramme und Zukunftsvorstellungen der den Widerstand bestimmenden Organisationen spiegelten diese Verhältnisse und bleiben deshalb auch reichlich abstrakt.

Der Abschluß der Genfer Verhandlungen 1988 mit der Zusage der UdSSR, die Besatzungstruppen bis zum 15.Februar, abzuziehen, überraschte die afghanische Widerstandsbewegung vollends. Die Widerstandskämpfer weigerten sich, den Versprechungen der UdSSR zu glauben. Als sie schließlich begreifen mußten, was sie sahen, begann sich Verwirrung, Erstaunen sowie Aktionismus einzustellen. Die Organisatoren der etablierten Parteien versuchten mit anderen Parteien Absprachen zu treffen, Küchenkabinette traten zusammen und Schlüssel zur Verteilung der Macht wurden geschmiedet; auch das Millionenheer der Flüchtlinge begann, sich Gedanken über den Aufbruch zu machen. Zögerlich sprach man sich Mut zu schließlich ist man Sieger, hat dem Riesen Rußland eine blutige Tatze geschlagen, so daß er davonhumpelt, ja eigentlich sich davonstiehlt. Aber... Und es sind viele „Abers“, die jetzt gehandelt werden. Politisch sind da erst einmal all die verschiedenen Parteien - sieben im pakistanischen Exil und ebenso viele im Iran, die jeweils zu einer Allianz zusammengeschlossen, aber intern alles andere als Sympathie füreinander hegen; dann gibt es noch inoffizielle Parteien und schließlich im Lande eine ganze Schicht erfahrener und durch ihren Einsatz in den letzten zehn Jahren ausgewiesener Kommandanten.

Keine Bündniserfahrungen

Plötzlich zeigt sich, daß es in den letzten Jahren immer nur taktische und militärstrategisch begründete Absprachen zwischen den Parteien und Organisationen gegeben hat, doch selten oder nur oberflächlich Diskussionen über ideologische Konzepte und Zukunftsvisionen. Und das, obwohl der Befreiungskrieg in der Perspektive der Widerstandsorganisatoren und ihrer ideologischen Eliten zu einem Krieg für eine neue islamische Gesellschaft geworden war.

Wird man sich deshalb nun die Köpfe einschlagen? Wohl nicht. Afghanistan ist nicht der Libanon. Aber es ist auch nicht der Iran: davor sind die Traditionen. Denn weder gab es in diesem Jahrhundert eine Zentrale, die der Gesamtgesellschaft ihre Politik diktieren konnten, noch wurden - bis auf eine Ausnahme 1929 - von der Provinz aus Versuche einer Eroberung der Hauptstadt unternommen. Es gibt deshalb auch weder Traditionen zentralistischer Despotie wie im Iran noch der permanenten anarchischen Revolte der Peripherien gegen die Zentren. Beides wurde letzten Endes deshalb verhindert, weil eine sehr enge interne Vernetzung der Gesellschaft deren wichtigstes soziales Prinzip darstellte. Und obwohl durch die gesellschaftlichen Lernprozesse der letzten Jahre viele Organisationsprinzipien und kulturelle Grundlagen verändert, neu bewertet oder erweitert wurden, haben die sehr konkreten Erfahrungen diese Vernetzung der Gesellschaft nicht aufbrechen können. Deshalb vor allem ist die zukünftige Gesellschaft Afghanistans sicher nicht völlig gegen die mitleidlose Durchsetzung abstrakter Ideen gefeit, aber immerhin weniger anfällig.

Anzunehmen ist daher auch, daß es weder zu einer unkontrollierten Verteilungsorgie kommt noch sich eine Partei mit einem Führer über alle anderen erheben und die übrigen eliminieren wird. Ein Großteil Afghanistans ist schon relativ stabil verteilt, und eine Reihe traditioneller Institutionen des Ausgleichs unterschiedlicher Interessen wie Ratsversammlungen und kollektive Beratergremien auf Dorf - und Regionalebene werden viele Konflikte schlichten können. Ob sich allerdings nach der Einnahme Kabuls einer groß-islamistischen Gesellschaft oder regionalistisch -islamische Ideologien durchsetzen werden, ist nicht absehbar.

Viel entscheidender wird für alle die Steuerung des Wiederaufbaus werden. Denn ob hier Entwicklungshilfe über Kabul verteilt wird (und damit auf dem Weg in die ländliche Gesellschaft versickert) oder dezentral in die Dörfer gelangt - und damit eher der Bevölkerung zugute kommt -, das bestimmt sowohl über das Überleben der Rückwanderer, über ihre politischen Loyalitäten als auch über die Chance, auf der Basis der fast zehnjährigen Lernprozesse ein neues, progressives Afghanistan aufzubauen.

Das zerstörte Land

Die gewaltsamen Auseinandersetzungen um Afghanistan trugen dazu bei, daß von den 1978 geschätzten 15 Millionen Afghanen jeder Zweite ein Flüchtling wurde; damit war zugleich jeder zweite offiziell registrierte Flüchtling in der Welt ein Afghane: 5,5 Millionen Afghanen leben in Pakistan und im Iran, etwa zwei Millionen flohen innerhalb des Landes, 100.000 gingen nach Übersee und etwa 1,2 Millionen starben durch Kriegseinwirkungen. Emigration und Tod haben die gesellschaftlichen Verhältnisse völlig aus dem Gleichgewicht gebracht: Während 85 Prozent der Gesamtbevölkerung 1978 auf dem Lande und nur 15 Prozent in den Städten lebten, sieht es momentan folgendermaßen aus: 23,2 Prozent leben auf dem Land, 13,7 Prozent in den Städten, neun Prozent starben, 33,2 Prozent sind externe und 10,9 Prozent interne Flüchtlinge. 70 Prozent der Füchtlinge sind Frauen und Kinder; über eine Million der Kinder wurden in den Flüchtlingslagern geboren. Da von den 1,24 Milliarden Toten ca. 60 Prozent Männer sind, heißt es, daß Hunderttausende von Familien ohne Ernährer dastehen.

Der Zynismus der Großmacht UdSSR, durch den Einsatz von verstümmelnden Explosivkörpern dem Widerstand die Fürsorge für Tausende von Krüppeln aufzubürden, bedeutet für die Zukunft des Landes zudem, daß diese Menschen nicht mehr wie ehemals üblich - im Rahmen der traditionellen Armenökonomie und auf der Basis familiärer oder dörflicher Gegenseitigkeitsstrukturen durchgebracht werden können. Darüber hinaus erhielten nur etwa sechs Prozent eines Kinderjahrganges Schulunterricht, über 60 Prozent der Gesundheitszentren wurden zerstört, 70 Prozent der befestigten und 25 Prozent der unbefestigten Straßen unbrauchbar gemacht und Quadratkilometer um Quadratkilometer vermint.

Zu all diesen Hiobsbotschaften über das Ausmaß der Zerstörung und Verwüstung gesellt sich noch, was ein schwedisches Forscherteam über die Grundlage der afghanischen Gesellschaft - die Agrarproduktion und die dörflichen Verhältnisse - herausgefunden hat. Von den ehemals 22.000 Dörfern wurde ein Drittel völlig zerstört, ca. 5.000 wurden unbewohnbar, da es kein Wasser und keine nutzbaren Anbauflächen gibt. Abwanderung trug landesweit zu einer Abnahme der Dorfbevölkerung um etwa 40 Prozent sowie einem Produktionsverfall von über 50 Prozent bei. Obstgärten wurden abrasiert, in Jahrhunderten aufgebaute Bewässerungswerke verschüttet, die genetischen Qualitäten des Weizens, der wichtigsten Ernährungspflanze, ging entscheidend zurück und fast ausgerottete Plagen wie Malaria und Ratten breiteten sich aus. Die Tierhaltung zählte einst zu den bedeutendsten Faktoren der afghanischen Landwirtschaft - heute dürfte der Gesamttierbestand um gut zwei Drittel niedriger als 1978 liegen.

Statistische Zahlen sind schwer lesbar. Meistens sagen sie nur dem etwas, der die geographischen und gesellschaftlichen Verhältnisse genau kennt. Doch soviel steht heute schon fest: sollten alle Afghanen jetzt in die Heimat zurückkehren, müßte ein Gutteil verhungern, da weder die Landwirtschaft die Bevölkerung zu ernähren vermöchte noch die zerstörte Infrastruktur eine Versorgung von außen zuließe. Die von der UNO projektierte Rückführungs- und Wiederaufbauphase sieht deshalb auch Zeiträume von drei bis zehn Jahren vor.

Zehn Jahre? Und durch wen und mit wem? Über die zu Ministern gewordenen Politstrategen der Widerstandsbewegung oder mit der Dorfbevölkerung? Die Antworten fallen so unterschiedlich aus: Potentielle Anwärter auf hohe Staatsposten dringen darauf, daß sie ihre Ämter zum Dreh und Angelpunkt der millionenschweren, von den westlichen und arabischen Ländern schon zugesagten Entwicklungshilfe werden; die zurückkehrenden Flüchtlingen bevorzugen natürlich dezentrale Hilfe und Entwicklungsprojekte. Ein Teil der Hilfsorganisationen würde Geld am liebsten vom Hubschrauber herausschaufeln - also bevorzugt teure Großprojekte finanzieren; wieder andere - und dazu zählt etwa das äußerst aktive Österreichische Hilfskomitee favorisieren eine dezentrale Organisation des Wiederaufbaus. Nicht zuletzt deshalb, weil sich von den Parteien unabhängige Afghanen dort mit westlichen Experten zusammentaten und Projekte mit viel Common sense, Phantasie und in guter Kenntis der internen Verhältnisse Afghanistans erstellten. Doch letztlich entscheidet über die eine oder die andere Strategie sehr viel mehr als ein alternatives Entwicklungskonzept. Irgendwie heißt es, die im Windschatten des Krieges vonstatten gegangene Emanzipation der Gesellschaft ernstzunehmen oder die Gesellschaft wieder als Gegenstand staatlicher Manipulation zu behandeln.

Der Autor untersucht im Rahmen eines DFG-Projektes die neuen Eliten und Ideologien des afghanischen Widerstandes. Vor wenigen Tagen kam er von einem mehrmonatigen Aufenthalt in Peshawar zurück, wo er in den Parteibüros der verschiedenen Widerstandsorganisationen deren Zukunftsvorstellungen diskutierte, von der Front kommende Kommandanten interviewte und die publizierten Materialien des Widerstandes auswertete.

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