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Ein Abkommen, das laufend gebrochen wird

Vom sowjetischen Truppenabzug ist nur eine Klausel des umfangreichen Afghanistan-Vertragswerks, das vor genau neun Monaten in Kraft trat, erfüllt. Die anderen Bestimmungen des damals als großer Erfolg für die UNO sowie als Beispiel für die Lösung von Regionalkonflikten gefeierten Abkommens stehen bis heute nur auf dem Papier und werden von den Vertragsparteien systematisch verletzt. Ankündigungen aus Washington, Moskau und Islamabad deuten darauf hin, daß dieser Zustand andauern wird.

Nach fast sechsjährigen Verhandlungen unter Vermittlung des UNO-Generalsekretärs wurden am 14. April 1988 im Genfer Palast der Nationen vier Vereinbarungen unterzeichnet, die am 15. Mai in Kraft traten. Die Nachbarstaaten Pakistan und Afghanistan verzichteten in einem „Vertrag über die beiderseitigen Beziehungen“ auf jegliche gegenseitige „Einmischung“ und „Intervention“. In einer „Internationalen Garantieerklärung“ verpflichteten sich USA und UdSSR zur „Respektierung“ dieses Abkommens, „insbesonders der Bestimmungen über Nichteinmischung und -Intervention“. Beide Großmächte versprachen ihrerseits „von jeglicher Form der Einmischung und Intervention“ abzusehen und „die Souveränität, Unabhängigkeit, territoriale Integrität und Blockunabhängigkeit Afghanistans und Pakistans zu respektieren“.

Eine dritte, von den Außenministern aus Kabul und Islamabad unterschriebene Vereinbarung sieht Regelungen für die „freiwillige Rückkehr“ der von der UNO derzeit auf rund 3,2 Millionen geschätzten afghanischen Flüchtlinge aus Pakistan vor. Die circa 2,4 Millionen Flüchtlinge im Iran kommen im gesamten Vertragswerk überhaupt nicht vor.

In dem vierten Text, dem einzigen von allen vier Staaten unterzeichneten, wurde die Einrichtung eines zivilen UNO -Überwachungsstabes vereinbart sowie der damals bilateral zwischen den Regierungen in Kabul und Moskau ausgehandelte Zeitplan für den sowjetischen Truppenabzug festgehalten.

Schon am Tag der Genfer Unterzeichnungszeremonie wurde deutlich, daß der Vertrag das teure Papier, auf dem er geschrieben steht, kaum wert ist. Denn er kam schließlich nur zustande mit Hilfe einer mündlichen Nebenabsprache zwischen Washington und Moskau, die Geist und Buchstaben des Abkommens diametral entgegensteht. „Negative Symmetrie“ lautete die Formel für diese „stillschweigende übereinkunft“, in der sich die beiden „Garantiemächte“ gegenseitig zubilligten, bis zum heutigen 15. Februar so viele Waffen an den jeweiligen Verbündeten zu liefern wie die andere Seite.

Über den genauen Umfang dieser militärischen Unterstützung gibt es nur Schätzungen. Tatsache ist, daß USA UDSSR in den letzten neun Monaten solche Mengen von Waffen in die Region pumpten, daß allein mit ihnen ein monatelanger Bürgerkrieg zwischen den verfeindeten afghanischen Lagern möglich ist. Formal verstießen damit die USA und Pakistan gegen sämtliche Vertragsbestimmungen über „Nichteinmischung und -Intervention“. Dort heißt es unter anderem im Artikel zwei, Absatz 12, daß Afghanistan und Pakistan sich verpflichten „zu verhindern, daß auf ihrem Gebiet in Lagern, Stützpunkten und andernorts Einzelpersonen oder Gruppen politischer, völkischer oder jeglicher andere Art untergebracht, organisiert, ausgebildet, finanziert, ausgerüstet und bewaffnet werden, damit sie auf dem Gebiet der anderen Hohen vertragschließenden Partei Subversion, Unordnung und Unruhe stiften...„ Über Pakistan lief bislang der Waffennachschub an die Mudschaheddin; auf seinem Territorium existieren Trainingslager für afghanische Oppositionskämpfer, die von dort nach Afghanistan einsickern, bzw. Raketen- und Luftangriffe auf Nadschibullahs Soldaten sowie bislang auch auf sowjetische Truppen starteten.

Auch die jüngsten Äußerungen der Regierung Bhutto lassen nicht erkennen, daß diese Form der „Einmischung“ in das Nachbarland aufhören soll. Aber auch die sowjetischen „Waffenlieferungen an eine souveräne Regierung“ sind zumindest ein Verstoß gegen den Geist des Abkommens, das nach den Worten des damaligen UNO-Unterhändlers Diego Cordovez bei der Genfer Unterzeichnungszeremonie „Frieden für die Region und ein Ende des Leidens der afghanischen Bevölkerung“ bringen sollte.

Washington und Moskau scheinen entschlossen, auch den zweiten Teil ihrer „stillschweigenden übereinkunft“ zu erfüllen: freie Hand bei Waffenlieferungen nach dem Abzug der sowjetischen Soldaten. Die Bush-Administration kündigte am Sonntag an, daß die Unterstützung der Mudschaheddin mit „Waffen, Geld und Versorgungsgütern“ mindestens „bis zum Sturz des Nadschibullah-Regimes“ weitergeht. Nach mehreren vergeblichen Appellen an Pakistan und die USA, die militärische Unterstützung der Mudschaheddin aufzugeben, schloß der sowjetische Außenminister Schewardnadse letzte Woche weitere Waffenlieferungen an Kabul sowie vom Territorium der UDSSR geflogene Bombenangriffe auf Mudschaheddin-Stellungen in Afghanistan nicht aus. Solange dieser Zustand andauert, bleiben die anderen Vertragsbestimmungen Makulatur.

Weder die Vereinbarungen über die Rückkehr der Flüchtlinge noch der in einem UNO-Sonderprogramm konzipierte Wiederaufbau Afghanistans sind unter den Bedingungen eines von außen geschürten Bürgerkrieges umsetzbar.

UNO-Vermittler Cordovez, der nach Vertragsabschluß zunächst die Leitung des UNO-Überwachungsstabes vor Ort erhielt, wurde kürzlich von Generalsekretär Perez de Cuellar abgelöst. Der ehrgeizige Diplomat, der mit dem Afghanistan -Vertrag auch seine Aussichten auf den Friedensnobelpreis und die Nachfolge von de Cuellar verbessern wollte, ist für einen Kardinalfehler des Genfer Abkommens verantwortlich, der sich heute bitter rächt: die innerafghanische Opposition wurde von den Verhandlungen über die Beendigung des Krieges und die Zukunft des Landes ausgeschlossen. Die Mudschaheddin haben das Abkommen bis heute nicht anerkannt. De Cuellars Appelle zur Zurückhaltung an ihre Adresse wirken vor diesem Hintergrund eher hilflos. Die einzige Möglichkeit, die die UNO heute hätte, um das Abkommen in Realität umzusetzen und einen langwierigen Bürgerkrieg zu verhindern, wäre die Entsendung einer Friedenstruppe. Doch die dazu notwendige Entscheidung des UNO-Sicherheitsrates dürfte just an den beiden „Garantiemächten“ scheitern.

Andreas Zumach

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