Ketchup bleibt Ketchup

■ Zu Vadim Abdraschitovs 'Der Diener‘ mit ein paar Anmerkungen zum bisherigen Wettbewerbsprogramm

Ein Wald in der Dämmerung. Ein See, schweigend. Durch die Landschaft fährt ein Bus, darin ein übermüdeter Mann. Fehlt nur noch Chopin. Aber wir hören stattdessen ein lautes hektisches Dies Irae mit Popmusik-Einlagen. Ein größerer Kontrast ist kaum denkbar. Ein Filmanfang vom Feinsten wunderbar selbstironaisch und fast so gut wie der Anfang von Gleb Panfilovs 'Das Tema‘, der vor zwei Jahren den Goldenen Bären gewann.

Der Mann steigt aus, geht in den Wald und frühstückt. Ein Fuchs tritt aus dem Gebüsch. Der Mann und der Fuchs drohen sich gegenseitig, und heulen sich an. Im Transistorradio läuft die sowjetische Nationalhymne. Diesmal kommentieren Musik und Bild einander, aber die Ironie ist dieselbe.

Danach erst beginnt der Film: die Geschichte von Herr und Knecht, von einem, der die Macht hat und einem, der ihr dient, von der Vertauschung der Rollen, der gegenseitigen Versklavung. Es ist die alte Geschichte von einem, der seine Seele an den Teufel verkauft, von Puntila und Matti, von Hinz und Kunz. Abdraschitov erzählt sie in Rätseln. Undurchsichtig, unverständlich, zumindest für uns Westler, die wir vermutlich zahlreiche Anspielungen auf sowjetische Geschichte und Gegenwart nicht einmal registrieren. Verstanden habe ich nur, daß bespitzelt, denunziert und intrigiert wird, daß ein gescheiterter Mordversuch am politischen Gegner die beiden aneinander bindet und daß sie ihrer Vergangenheit nicht entkommen können, auch wenn sich die Verhältnisse inzwischen geändert haben. Ein Film über ein Theorem, über den sich kluge Worte machen lassen wie 'konstruktiver Pessimismus‘ (H.-J. Schlegel auf der Pressekonferenz) oder „Parabel auf die Sowjetunion von heute und die Schwierigkeiten der Perestroika“ (der Regisseur), bloß aufregende Bilder findet er dafür nicht: der Rest ist Mystik, Metaphysik, Langeweile.

Es scheint, als ob die sowjetischen Regisseure zwar jetzt die Freiheit haben zu filmen, was und wie sie wollen, bloß wissen sie noch wenig damit anzufangen. Vielleicht liegt es ja am jahrzehntelangen Zwang, ihre Anliegen verstecken zu müssen, daß viele von ihnen bis heute nichts anderes können als in Rätseln sprechen.

Danach also - nach der kurzen Eingangssequenz - beginnt der Film nicht. Danach ist 'Der Diener‘ zu Ende. Nur die Musik macht noch eine Ausnahme. Der Diener - er ist verletzt erwacht im Auto. Dazu hören wir den Anfang von Mozarts g -moll-Symphonie, gesungen von einem vierstimmigen Chor. Die Musik bricht ab, als er die Augen aufschlägt. Er steigt aus, geht in ein Gebäude, die Musik setzt wieder ein, schwillt an. Da steht ein Chor und probt. Daher also die Unterbrechung beim Erwachen. Der Regisseur hat uns ausgetrickst.

Fragt sich, wie ein Regisseur, der momenteweise so raffiniert mit dem Genre und mit den Zuschauer-Erwartungen zu spielen vermag, einen ansonsten so uninspirierten Film machen kann. Wieso er statt der Finten die Langeweile wählt, anstelle des Lakonischen die Mystik.

Die Mehrzahl der bisher gezeigten Wettbewerbsfilme krankt an ähnlichen Phänomenen. Peter Timars 'Eh die Fledermaus ihren Flug beendet‘ (Ungarn) beispielsweise fängt ebenfalls aufregend an mit der wunderbaren Szene, die der Protagonist wegen eines verdorbenen Chili con Carne der Bedienung einer Imbiß-Stube macht. Timar präsentiert uns den Teller mit der roten klebrigen Brühe in Großaufnahme. Ketchup bleibt hier Ketchup und nur unser Wissen, wofür es im Kino sonst herhalten muß, macht die Szene so komisch. In der darauffolgenden Sequenz - der Unfall in der Drehwerkstatt klebt es denn auch prompt auf der Stirn des Unfallopfers. Was dann folgt, ist eine miese Story über einen Schwulen, an der auch die ungewöhnlichen Kameraeinstellungen nichts ändern können. Genauso: Camille Claudel. Bruno Nuytten kann das Niveau, das er anfangs vorgibt, das Tempo und die Unbarmherzigkeit der Filmschnitte kaum eine Stunde lang beibehalten - der Film verkommt zum Rührstück. Auch der chinesische Wettbewerbsbeitrag 'Abendglocken‘ beginnt mit einer befremdlichen Mischung aus brutalen Szenen - der Verbrennung einer Kompanie von Soldaten - und fast surrealen Traumsequenzen. Nach spätestens einer halben Stunde entpuppt er sich jedoch als Antikriegs-Schmonzette.

Hoffen wir für die zweite Hälfte des Festivals, daß Stephen Frears, der uns nur mit den letzten 10 Minuten enttäuschte, nicht die einzige Ausnahme bleibt.

chp

Vadim Abdraschitov: Der Diener, mit Oleg Borissow, Jurij Beljajew, UdSSR 1988, 136 Min.

16.2., Gloria, 11.30 Uhr; Urania, 21.00 Uhr