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„Eine Armee von Mördern kommt in unser Land“

■ Viele Afghanistan-Heimkehrer suchen in Drogen Vergessen oder schließen sich zu Schlägertrupps zusammen / „In Afghanistan war alles erlaubt“

Aus Moskau Barbara Kerneck

In merkwürdig gestelzten Formeln beschwört die offizielle sowjetische Presse dieser Tage den Abzug der Truppen aus Afghanistan. Als habe es nie kritische Reportagen über das Geschehen gegeben, zum Beispiel in der Zeitschrift 'Ogonjok‘ oder der Zeitung 'Moscow News‘, schildern 'Prawda‘ und 'Iswestija‘ betulich die „letzten Kilometer“, die festlichen Empfänge an der Grenzstation Termes für die jungen Soldaten, die dem „Ruf der Heimaterde“ folgen - „dem Frühling entgegen“.

„Die Lastwagen, die diese Woche täglich 3.000 Mann über die Grenze gebracht haben, tragen uns Dynamit ins Land“, meint dagegen Alexej, der vor einigen Jahren kurze Zeit selbst als Arzt in Afghanistan war. Er meint das Problem der sogenannten „Veteranen“, der Heimkehrer, die doch in der Mehrzahl erst Anfang 20 sind. Die vorherrschende Informationspolitik der Medien bezeichnet er als „Reise durch die Halbwahrheiten“: „Es wäre herauszufinden, wieviele Leichen unsererseits auf der Strecke geblieben sind“, meint er; die offizielle Zahl von 13.000 Opfern hält er für stark untertrieben.

Niemand in Moskau, auch nicht die vielen, die noch an die Legende vom afghanischen Hilferuf an die Sowjetunion glauben, versteht den Sinn der materiellen Hilfsleistungen in Höhe von angeblich 40 Millionen Rubeln, die noch in den letzten Tagen ins afghanische Hinterland geschafft wurden. Die entscheidenden Fragen dieses Krieges werden offiziell nicht gestellt: Ist er nun gewonnen oder verloren? Gegen wen haben wir dort eigentlich gekämpft? Vor allem aber die Hauptfrage der meisten Moskauer: Was zum Teufel hatten unsere Truppen dort eigentlich zu suchen?

In Kreisen der neuen Moskauer Intellektuellenklubs wird schon ein „Nürnberger Prozeß“ gegen die Schuldigen gefordert. Mascha, eine junge Schauspielschülerin, drückt es einfacher aus: „Das Kommando zum Einfall in Afghanistan, das alles war undurchdacht und unseriös, und deshalb glaube ich, daß man alle Verantwortlichen hart bestrafen muß. Von den Jungs, die aus Afghanistan zurückkommen, sind viele nicht nur äußerlich verkrüppelt, sondern sie nehmen auch psychisch Schaden. Während sie kämpften und täglich und stündlich den Tod um sich sahen, glaubten sie, daß in der Sowjetunion inzwischen ein besseres Leben beginnt und daß alles gut wird. Aber bei der Heimkehr sehen sie nun, daß alles noch wie immer ist, daß hier Korruptheit und Bestechlichkeit herrschen und daß es eine Mafia gibt. Wenn sie dann so etwas wie unsere Moskauer Punks sehen, drehen sie durch und schlagen einfach zu. Ich finde es ja im Prinzip gut, daß ihre Veteranenvereine hier

für Gerechtigkeit sorgen wollen, aber ich glaube, sie verfehlen ihr Ziel.“

Unter meinen Gesprächspartnern in diesen Tagen ist niemand, der das Kriegsende nicht vor dem Hintergrund eines inneren Kampfes um soziale Gerechtigkeit in der Sowjetunion interpretiert, niemand, der nicht die Situation der jungen Heimkehrer als Teil einer umfassenderen moralischen Krise der Gesellschaft betrachtet. Die als lügnerisch entlarvte Propaganda bietet keinen Trost mehr. Revolutionäre Hoffnungen, die Anfang '87 aufgekommen waren, als sich der Perestroika-Kurs konsolidierte, wurden angesichts der jämmerlichen wirtschaftlichen Lage enttäuscht.

„Das einzige, was sich in rasendem Tempo modernisiert und umgestaltet, ist die Schattenwirtschaft“, sagt mir Ljuba. Als Bibliothekarin in einer zentralen Bibliothek war sie schon immer überdurchschnittlich gut informiert und hat den Krieg in Afghanistan von Anfang an abgelehnt. Nun befürchtet sie eine Kriminalisierung und Brutalisierung der Gesellschaft. „Das Schlimmste ist, daß diese Heimkehrer, die einem anderen Volk so sehr geschadet haben, jetzt auch dem eigenen Volk zu schaden beginnen. Da kommt eine ganze Armee von professionellen Mördern auf uns zu, für die hier kein Platz ist. Natürlich gingen die jungen Leute anfangs guten Glaubens dorthin, als 'Internationalisten‘, aber sie haben bald mitgekriegt, daß es den Leuten dort völlig gleich war, ob sie deren Dörfer zerstörten oder die Daschnaken, daß es bei der ganzen Sache nur darauf ankam, möglichst viele umzulegen. Ich habe selbst von einem Beteiligten dort gehört, daß unsere Soldaten dort wetteiferten, wer die meisten abgeschnittenen Ohren von seinen Opfern mit sich herumtrug. Es hat sich unter ihnen eine Mentalität des 'Alles ist erlaubt‘ verbreitet. Und nun betreiben sie in den Sportzentren der Vorstädte den Kult ihrer physischen Kraft, um abends in der Innenstadt brutal kleine Jungen und auch Mädchen zusammenzuschlagen.“

Der Philosophiedozent und Hobbysoziologe Michail Maljutin, der bei den laufenden Wahlen für den Klub „Demokratische Perestroika“ kandidiert, bemüht sich um ein differenziertes Bild der Veteranen im Spektrum zwischen Opfern und Tätern. Er teilt sie in vier Grundtypen ein: „Da sind erst mal die einfachen Soldaten, die schon fühlen, daß das alles irgendwo nicht stimmte, aber sich auch nachträglich auf ihre Befehle herausreden und nur versuchen, auf passive Art, zum Beispiel mit Drogen, ihre Frustrationen zu vergessen. Dann gibt es als zweite Gruppe die Spezialeinheiten, über die braucht man eigentlich kein Wort zu verlieren. Typische 'Green Berets‘, die jetzt einzig und allein der Gedanke plagt, daß wir dort nicht tüchtig genug gekämpft haben. Sie sind felsenfest überzeugt, daß alles in Ordnung wäre, wenn wir so durchgegriffen hätten, wie die Israelis gegenüber den Palästinensern, und möglichst auch noch eine Politik der verbrannten Erde betrieben hätten. Aus diesen Reihen rekrutieren sich jetzt die Ausbilder für den militärischen Unterricht in unseren Schulen, und die sind dort auch nicht gerade besonders beliebt.

Als drittes ist da die winzig kleine Gruppe der Karrieristen, die sich im Krieg saniert haben und von ausnahmslos allen anderen verachtet werden. Und schließlich eine vierte, ebenso winzig kleine Gruppe: Die, welche wirklich bereuen. Junge Leute, die sehen, daß sie nicht nur betrogen worden sind, sondern daß sie sich diesen Schuh auch noch selbst angezogen haben, daß sie sich auf der falschen Seite befunden haben, auch wenn sie den islamischen Fanatismus nicht für eine bezaubernde Erscheinung halten, und die auch noch offen darüber sprechen. Diese Gruppe versetzt die beiden vorhergehenden in blanke Hysterie.“

Neben solchen nüchternen Analysen steht das einfache Leiden. Sina, eine Deutschlehrerin, die noch vor drei Jahren meine Einwände gegen den Krieg nicht verstand, hatte letzten Herbst in Afghanistan ihren Lieblingsneffen verloren. „Der Junge war sehr begabt“, meint sie, „aber er hat den Eltern immer Sorgen gemacht, weil er als Kind unter einer schweren Allergie litt. Noch kurz vor dem Schulabgang, also vor der Einberufung, war er in ambulanter Behandlung. Jetzt fühlt sich der Vater von den stummen Vorwürfen der Nachbarn verfolgt: warum er diese Krankheit nicht als plausiblen Vorwand benutzte, um seinen Sohn zu schützen. Als ich im Herbst dorthin fuhr und die vielen frischen Gräber der 'Internationalisten‘ sah, bin ich bitter und nachdenklich geworden: Warum hat man uns das alles nicht schon eher erklärt? Warum haben wir selbst nicht viel früher zu fragen begonnen?“

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